Der Vermesser (German Edition)
Ihr ergebenster Diener
Alfred England
Dann hatte William May also die Wahrheit gesagt. Hawke hatte Bestechungsgelder entgegengenommen. Und wenn er gewusst hatte, dass England ihn verraten würde, hatte er zweifellos seinen Tod gewollt. Rose verspürte Erleichterung. Erleichterung und neue, belebende Hoffnung, doch das vorherrschende Gefühl war Erstaunen. Er kaute nervös am Daumennagel, als er die Dokumente herausholte, die er vom Polizeirevier mitgenommen hatte, und auf dem schmalen Tisch ausbreitete. Es war unverkennbar Englands Handschrift: das dicke runde »o«, die kurzen Unter- und Oberlängen bei den Buchstaben »b« und »d«, die kindlich ausladende Unterschrift. Diesen Brief hatte England geschrieben, ganz zweifellos. Noch bemerkenswerter war das Datum: 16 . Dezember 1858 . Der letzte Tag, an dem England lebend gesehen worden war. Rose drehte das Blatt um und untersuchte es genauer. Diese braunen Streifen. War es möglich … konnte es sein, dass es Englands Blut war?
Der Fremde roch nach schmutziger Wäsche und Rauch von Holzfeuer. Er verzog keine Miene, als Rose den Brief noch ein letztes Mal las. Dann nahm er ihn wieder an sich und steckte ihn in die speckigen Falten seiner Jacke. Rose konnte es kaum ertragen, den Brief verschwinden zu sehen. Es war ihm ein Rätsel, wie Tom an dieses Schriftstück gekommen war – gewiss auf unrechtmäßige Weise. Vielleicht hatte er die Leiche ausgeraubt. Vielleicht war er ein Komplize. Das spielte keine Rolle. Selbst wenn er den alten Mann wie durch ein Wunder überreden könnte, vor Gericht auszusagen – er konnte unmöglich einen Kanaljäger in den Zeugenstand rufen. Nein, Tom war unwichtig. Was zählte, war der Brief. Mit ihm hatte Rose endlich etwas in der Hand. Wenn er ihn nur an sich nehmen könnte.
»Sie haben also Interesse«, sagte der Fremde und schob scharrend seinen Stuhl zurück. »Ich seh’s an Ihrem Gesicht.«
Erst jetzt bemerkte Rose, wie groß der Mann war. Sein Kopf streifte die niedrige Decke und hinterließ einen Rußfleck auf dem feuchten Verputz. Rose biss sich auf die Lippen und nickte. »Und was verlangt Tom dafür?«
Joe zuckte die Achseln. »Tom? Glaub nicht, dass ich einen Tom kenne.«
Rose holte tief Luft. »Natürlich nicht. Tom hat nichts damit zu tun.« Rose zögerte nur kurz. Er hatte nichts zu verlieren. »Sagen Sie ihm, er soll morgen um sieben hierher kommen. Ich werde den Hund mitbringen.«
XXXI
E ndlich zog die Morgendämmerung herauf und vertrieb gemächlich die Dunkelheit über der Stadt. Sobald es einigermaßen hell war, übergab Rose dem Pförtner ein Schreiben, das unverzüglich weitergeleitet werden sollte, wie er betonte. Er hatte nicht geschlafen. Seine Augen brannten, und er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund, trotzdem spürte er eine unbändige Energie. Es würde ein paar Stunden dauern, ehe er mit einer Antwort rechnen konnte. Die Zeit bis dahin musste er sinnvoll nutzen, sagte er sich entschlossen, indem er an seiner Beweisführung feilte und seine Unterlagen in Ordnung brachte. Doch stattdessen schritt er in seinem beengten Zimmer auf und ab, die Zehen in den Stiefeln verkrampft, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und rang die von der winterlichen Kälte rissigen Hände. Das Poltern von Stiefeln auf den nackten Dielen draußen auf der Treppe ließ das Glas in dem abblätternden Fensterrahmen klirren. Er versuchte, Feuer zu machen, um sich Tee zu kochen, aber die Späne waren feucht und schimmelig und wollten nicht brennen. Der Qualm biss ihm in die Augen. Sobald er eine Antwort hatte, würde er im Kaffeehaus frühstücken. Ungeduldig spähte er nach draußen. Im kümmerlichen Gras vor seinem Fenster pickten ein paar Amseln trostlos im Dreck herum, ohne die Schar der Anwälte zu beachten, die in ihren schwarzen Roben an ihnen vorbeihasteten. Er kaute an den Fingernägeln. Bestimmt würde er bald etwas hören. Es war Donnerstag. Die Verhandlung war für Montag angesetzt. Es war durchaus noch möglich, eine Verschiebung zu erreichen. Nach der frühmorgendlichen Betriebsamkeit war die Pension jetzt verwaist. In der Stille tickte die Uhr auf dem Kaminsims gleichmäßig vor sich hin; ihre rastlosen Zeiger sprangen von Minute zu Minute. Rose dachte an William May, der auf dem schmutzigen Stroh seiner Gefängniszelle in Ketten lag, und an den gesichtslosen Hawke, der frei herumlief. Er sank auf einen Stuhl und ließ die Arme zwischen den Knien baumeln. Dann stand er auf, lief erneut auf und ab und
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