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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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anderer würde mehr mit ihm anfangen können, hatte er ihnen gesagt. Er selbst sei zu alt und zu müde, um noch einmal von vorn anzufangen. In jener und in der vergangenen Nacht hatte er von Lady geträumt. Sie saß reglos da, halb im Schatten, doch so nah, dass er ihre leisen Atemstöße hörte und ihren warmen Hefegeruch roch. Tom lächelte ihr zu, schnippte mit den Fingern und streckte ihr die Hand entgegen, aber sie sah ihn mit ihren rosa Augen nur an, den Kopf schräg gelegt, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. In seinen Träumen hatte er es erfahren, dieses unangenehme Gefühl, als das Glück in seinem Magen sauer wurde. Er hatte ihr zugerufen, sie solle zu ihm kommen. Er hatte nicht anders gekonnt. Und auch als sie längst verschwunden war, hatte er noch gerufen, so laut, dass er davon aufwachte. Als er, nach Luft ringend, die Knie an die Brust drückte, schnitt ihm der Schmerz scharf wie ein Messer in die Kehle.
    Jetzt, in der Dunkelheit der Abwasserkanäle, schluckte Tom. Er hatte sich nicht getäuscht. Hier unten sah er alles ganz klar. Er zog den Kopf ein, als der Tunnel anstieg und ihm die Decke bis zu den Schultern reichte, bevor sie wieder höher wurde. Das Päckchen befand sich immer noch hier hinter dem Steinblock, genau an der Stelle, wo er es hingelegt hatte. Einen Kerl wie diesen Captain musste man mit seinen eigenen Waffen schlagen. Man musste alles gegen ihn einsetzen, alles, was man in Händen hatte, selbst wenn man gar nicht genau wusste, was es war, und hoffen, dass es ihn traf. Ihn so tief in seine eigene Scheiße tauchen, dass er erstickte, bevor er recht begriff, was los war. Und dann weglaufen, so schnell man konnte.
    Rose hatte gesagt, Tom könne in einem kleinen Kaffeehaus unweit des Temple-Bezirks eine Mitteilung hinterlassen, falls ihm noch etwas einfiele. Zuerst hatte er seine Kanzlei, wie noble Anwälte offensichtlich ihr Büro nannten, als Treffpunkt vorgeschlagen, aber etwas an Toms Gesichtsausdruck hatte ihn bewogen, sich rasch einen anderen Treffpunkt einfallen zu lassen: das Kaffeehaus, das wegen des ständigen Verkehrs auf dem Fluss rund um die Uhr geöffnet war. Tom konnte dort hinterlassen, wo und wann immer er sich mit Rose treffen wolle. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.
    Er schickte Joe, um dem Anwalt die Schriftstücke zu überbringen, eingeschlagen in ein altes Stück Stoff und verschnürt mit einem Bindfaden. Zuerst hatte Tom sich überlegt, sie dem Anwalt heimlich zukommen zu lassen, sie ihm einfach vor die Tür zu legen, so dass er sie am nächsten Morgen finden würde – ein Geschenk von einem wohlmeinenden Gönner, der anonym zu bleiben wünschte. Aber diese Unterlagen waren alles, was er besaß. Er konnte sie nicht einfach so hergeben, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es nur Schneiderrechnungen waren. Doch Tom hatte auch nicht die Absicht, sich dem Gericht gewissermaßen als Beilage zum Hauptgang zu präsentieren. Und so bestand er darauf, dass Joe sich das kupferrote Haar mit Ruß schwarz färbte und sich bis zu den Ohren einmummelte, damit ihn der Anwalt nicht erkannte; aber seine Augen unter dem schmutzigen Schal funkelten, und er scheuchte Toms wiederholte Ermahnungen wie einen Schwarm lästiger Fliegen beiseite.
    »Ich hab’s kapiert, du Blödmann,« grinste er. »Is ja wirklich nicht so schwer. Ich zeig also diesem Rose die Schriftstücke. Wenn er Interesse hat, sag ich ihm, dass er sie kriegt, sobald du deinen Hund wiederhast.«

XXX
    D ie Daumen des Fremden hoben sich schwarz von dem cremefarbenen Brief ab. Obwohl er auf offiziellem Papier geschrieben und der Name der Firma als Briefkopf in hübschen schwarzen Lettern eingraviert war, hätte ein Schulmeister keine Freude daran gehabt. Die krakeligen Buchstaben waren verschmiert und so hastig aufs Papier geworfen, dass verschiedentlich die Wörter durch Tintenkringel ineinander flossen. An ein, zwei Stellen hatte die Feder gekleckst. Einen Umschlag gab es nicht. Die Rückseite wies rostbraune Streifen auf und war übersät mit bläulich schwarzen Flecken, die auf Schimmel hinwiesen. Zweifellos hatte man den Brief oft angefasst. Die Faltkanten waren tief und faserig und schimmerten im rußigen Schein der Öllampe grau. Das Tuch, in das der Brief und die anderen Schriftstücke eingewickelt waren, starrte vor Schmutz und roch unangenehm nach Exkrementen.
    Der Junge aus dem Kaffeehaus hatte kurz nach ein Uhr nachts an die Tür geklopft. An jenem Abend hatte Rose den Wirt gebeten, ihn

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