Der Vermesser (German Edition)
dürr wie eine Bohnenstange und mit roten Ohren, tauchten von Zeit zu Zeit in den Massenquartieren auf in der Hoffnung, die Stadt würde ihnen eine Zukunft bieten. Junge Burschen, die grundsätzlich in die falsche Richtung schauten, wenn Gefahr im Verzug war. Der Captain brauchte nur zu niesen, und so ein Bürschchen würde weggepustet wie nichts. Aber das war Tom jetzt egal. Er brauchte den Anwalt nicht mehr. Da konnte er sich drehen und wenden, wie er wollte, es würde Tom nicht mehr kümmern. Heute Abend würde Lady im Badger sein. In ein paar Stunden würde er sie wiedersehen. Er würde sie streicheln. Sein Magen krampfte sich zusammen.
Und er würde den Captain wiedersehen. Es war Zeit, dass Tom die Verhandlungen selbst in die Hand nahm. Die Briefe waren wieder da, wo sie hingehörten, sicher verstaut in seinem Versteck in den Tunneln. Tom war fest entschlossen, Kapital daraus zu schlagen. Laut Joe hatten beim Anblick der Briefe die Augen des Anwalts gefunkelt wie ein Schaufenster des Kaufhauses Moses & Son. Besonders einen hatte er mehrmals gelesen, mit leuchtenden Augen und hochroten Wangen, als wär’s eine geheime Botschaft von seiner Liebsten. Joe hatte die Finger knacken lassen und gelacht. Es sei richtig anstrengend gewesen, berichtete er Tom, den Brief hochzuhalten, damit der Anwalt ihn immer und immer wieder begaffen konnte; und mehr als einmal habe er ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legen müssen, damit er sich zusammennahm und seine gierigen Hände flach auf den Tisch legte, wie sie es vereinbart hatten. Wenn Joe es zugelassen hätte, wäre der Anwalt mit den Unterlagen auf und davon, bevor er noch piep hätte sagen können. So wie’s aussah, war der Anwalt so scharf auf die Schriftstücke, dass er sogar bereit war, ihm dafür den Hund zu besorgen. Wie viel sie dann wohl dem Captain wert sein mochten? Doch bestimmt einen Hund und vierzig Guineen? Ein günstiger Preis.
Um sieben Uhr fand Tom sich im Kaffeehaus ein. Nicht weil er erwartete, dass der Anwalt Lady mitbringen würde, sondern weil er mit dem Captain härter würde verhandeln können, wenn er noch mehr erfuhr. Die Briefe hatte er nicht mitgenommen. In ihrem Versteck waren sie sicherer. In dem Moment, als er durch die niedrige Tür eintrat, sah er einen weißen Hund, der zusammengerollt unter einem Tisch in einer Ecke lag. Sein Atem stockte, und sein Herz schlug heftig gegen die Rippen, bevor er erkannte, dass es nur eine griesgrämige Bulldogge war, die mit Lady nicht die geringste Ähnlichkeit hatte. Mit einem leisen Fluch spuckte er auf den sägemehlbestreuten Boden und wartete.
Der Anwalt verspätete sich. Und er kam allein. Obwohl Tom nichts anderes erwartet hatte, funkelte er Rose böse an und schluckte den bitteren Geschmack hinunter.
»Sie sind also gekommen«, sagte der Anwalt.
»Und Sie kommen allein, stimmt’s?«
»Ja.«
Rose wand die Hände ineinander. An den Hund hatte er fast gar nicht mehr gedacht. Den ganzen Nachmittag hatte er hin und her überlegt, innerlich aufgewühlt von Schuldgefühlen und Angst, dass ihm die Kopfhaut unter den fettigen Haaren juckte. Einer wie Tom war misstrauisch gegen die Justiz wie alle armen Leute, und wahrscheinlich aus gutem Grund, denn er sah nicht so aus, als würde er es mit dem Gesetz allzu genau nehmen. Trotzdem hatte er ihm den Brief gezeigt. Er hatte nach seinem Gewissen gehandelt, um einen Unschuldigen zu retten, und baute darauf, dass Rose ihm im Gegenzug einen Dienst erwies. Rose hatte dieses Vertrauen enttäuscht. Hawke würde gewiss nicht tatenlos dasitzen. Er würde Tom nachstellen. Und Rose trüge die Schuld daran.
»Es tut mir leid«, murmelte Rose. »Ich … alles war schwieriger, als ich gehofft hatte.«
Tom schwieg.
»Ohne den Brief kann ich nichts machen«, brach es aus Rose heraus. »Bitte. Ich beschwöre Sie. Wenn ich den Brief habe, besteht die Chance, dass Sie Ihren Hund wiederbekommen. Ohne den Brief … ohne den Brief habe ich nichts in der Hand. Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.«
»Welchen Brief?«
»Bitte. Lassen wir die Spielchen. Die Zeit drängt.«
Tom blinzelte und riss die Augen auf. »Ich versteh Sie wohl nicht, Mister.«
»Um Himmels willen, lassen Sie das doch! Ich bitte Sie.«
»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln, Mister. Ich weiß nichts von einem Brief.«
Rose konnte sich nicht länger beherrschen. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. »Tom, für dieses Versteckspiel ist es zu spät. Er weiß Bescheid, verstehen Sie?
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