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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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schienen. Und so kam es, dass im Frühjahr 1856 sein Freund Robert Rawlinson, ein angesehener Ingenieur, der erst kürzlich von seinem Posten bei Sutherlands Hygienekommission in Skutari zurückgekehrt war, ihm einen frisch gebackenen Vermesser namens William May empfahl.
    May hatte bereits zwei Monate in Skutari hinter sich, als Rawlinson am Ende des ersten harten Winters im Krimkrieg in dem türkischen Außenposten eintraf. Zwar kannte Rawlinson die Zeitungsberichte und hatte in den Armenvierteln Liverpools mit dem Bau sanitärer Anlagen bereits reichlich Erfahrung gesammelt, aber dennoch entsetzten ihn die Zustände, die er in Skutari vorfand. Die verfallenen türkischen Kasernen, die als Lazarett dienten, glichen Elendsquartieren, überbelegt, verdreckt und unsäglich schlecht belüftet, und fast die Hälfte der Soldaten, die es geschafft hatten, den entbehrungsreichen viertägigen Transport von der Front hierher zu überstehen, starben, nachdem sie endlich angekommen waren, im Lazarett. Allein das so genannte Kasernenlazarett verzeichnete täglich fünfzig Todesfälle. Die Leichen wurden in Decken eingenäht, auf einen offenen Karren geworfen und in eilig ausgehobenen Massengräbern bestattet. Eine Krankenschwester berichtete Rawlinson, dass sie einmal beobachtet habe, wie türkische Soldaten mehrere Leichen in ein flaches viereckiges Loch warfen. Als einer der Soldaten merkte, dass der Kopf einer Leiche noch herausragte, trat er mit seinem Stiefel so lange auf ihn ein, bis er in dem Loch verschwunden war. Diese Stelle lag keine zwanzig Meter vom Lazaretteingang entfernt. Binnen vier Tagen inspizierten Sutherland und Rawlinson alle vier Lazarette und legten ihren Bericht vor. Umgehend machte sich Rawlinson daran, eine Gruppe von Männern zusammenzustellen, um für Verbesserungen zu sorgen.
    Die gestriegelten und geschniegelten Herren der Hygienekommission hätten unter den zerlumpten Soldaten von Skutari nicht deplatzierter erscheinen können, selbst wenn sie Häubchen und Reifrock getragen hätten. Aber William nahm sie kaum wahr. Er hatte das Grauen von Inkerman überlebt, und zwei Monate später war er von einem russischen Infanteristen mit dem Bajonett aufgespießt worden, der sich auf ihn gestürzt hatte, als er allein und halb schlafend während der Nachtwache durch einen gefrorenen Schützengraben gestolpert war. Als ihn die Ablösung am nächsten Morgen fand, mit dem Gesicht nach unten im scharlachroten Schnee, war er fast nicht mehr bei Bewusstsein. Noch Tage danach wusste er nicht, wo er sich befand. Wenn man ihn drängte, etwas zu sagen, stotterte er, übergab sich und brachte nur ein kindliches Kauderwelsch heraus. Obwohl geschwächt, neigte er zu Gewalttätigkeiten; nachdem sein Arzt nur knapp einem Faustschlag von William entgangen war, band ihm der ebenso erzürnte wie entnervte Mann mit einem Seil die Hände zusammen. Solcherart gefesselt, trat William den langen Transport nach Skutari an. Bei seiner Ankunft im Lazarett hatte er die Kleidung seit vier Wochen nicht mehr gewechselt. Als die Krankenschwester das zerlumpte Tuch entfernte, das seine Bauchwunde bedeckte, musste sie erst eine Hand voll Maden entfernen, bevor sie einen neuen Verband anlegen konnte.
    Die Wunden an Brust und Bauch verheilten erstaunlich gut, dennoch blieb William so schwach, dass er weder stehen noch selbstständig essen konnte. Immer wieder peinigten ihn Albträume, die zu anfallartigen Krämpfen führten. In seinem gequälten Schlaf kratzte er sich mit den Fingernägeln die Haut bis aufs Fleisch auf und biss sich die Lippen wund und schrundig. Die Krankenschwestern und anderen Patienten begriffen schnell, dass sie sich ihm nur vorsichtig nähern durften, da es nicht selten vorkam, dass er bei einem unerwarteten Geräusch oder einer Berührung wild um sich schlug. Einmal verpasste er einem frisch eingelieferten Soldaten der Zweiten Kompanie mit einem Faustschlag ein blaues Auge, nur um sich danach verzweifelt an ihn zu klammern und um Verzeihung zu flehen, weinend den Kopf in die zerlumpte Uniform des Mannes gegraben. Da die Soldaten bei den eisigen Temperaturen in Balaklawa wie die Fliegen starben und somit Ersatz dringend geboten war, kam man nur widerstrebend zu dem Entschluss, dass der Gefreite May noch nicht an die Front zurückkehren konnte. Stattdessen wurde ihm »leichtes Fieber« attestiert, und kurz vor dem Eintreffen der Kommission verlegte man ihn auf eines der beiden Genesungsschiffe, die im Hafen vertäut

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