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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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oder?« Rawlinson blickte den Soldaten eindringlich an. Er schien zu wanken, und der einzige Farbton in seinem fahlen Gesicht waren die dunkelvioletten Flecken unter den Augen. »Geht es Ihnen gut?«
    May hob sein Löwenhaupt und sah sein Gegenüber an. Seine sandbraunen Augen mit ihrem weder freundlichen noch feindseligen Ausdruck schienen nicht auf Rawlinson und auch nicht auf die Wand hinter ihm gerichtet zu sein, sondern auf etwas in seinem Innern. Rawlinson beschlich das eigentümliche Gefühl, nicht in ein Augenpaar zu blicken, sondern auf die farblose Rückseite der Iris.
    »Gefreiter May?«
    »Nein, Sir«, murmelte May schließlich. »Nicht so ganz, Sir.«
    Der Hauptmann neben May erlaubte sich, vernehmlich Luft zu holen, und presste unter den Enden seines gewachsten Schnurrbarts die Lippen zusammen. Ohne ihn weiter zu beachten, lehnte sich Rawlinson in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Finger ineinander und musterte May eingehend. Aus den Dokumenten auf seinem Schreibtisch ging hervor, dass dieser Soldat in Inkerman für seine Tapferkeit ausgezeichnet worden war. Der Korrespondent der
Times
hatte Inkerman als die blutigste Schlacht bezeichnet, die jemals geschlagen wurde, seit der Fluch des Krieges die Erde heimsuchte. Rawlinson hatte den Bericht darüber beim Frühstück am Portland Square gelesen; er konnte sich noch gut daran erinnern.
    »Nein«, stimmte er zu, und seine klugen grauen Augen blickten unverwandt auf das Gesicht des Mannes. »Nicht so ganz. Ich sehe es.« Er legte nachdenklich eine Pause ein. »Aber geht es Ihnen gut genug, um arbeiten zu können? Ich brauche dringend einen Vermesser. Sie würden morgen anfangen.«
    Mays Atem beschleunigte sich, und er fingerte noch nervöser an dem Jackenknopf herum. Dann fuhr er sich mit der Zungenspitze über die ausgetrockneten Lippen. »Ich wäre Ihnen nicht von Nutzen, Sir«, stotterte er. »Ich … ich … Sie werden jemand anderen finden. Jemand, der besser geeignet ist. Ganz gewiss, Sir.«
    Durch das Gezerre an dem Knopf riss schließlich der ausgeleierte Faden, der ihn am Stoff gehalten hatte. May starrte auf den Knopf in seiner Hand, das Gesicht vor Kummer verzerrt.
    Einen Augenblick zögerte Rawlinson, dann beugte er sich vor, die Ellbogen auf den Mahagonischreibtisch gestützt. »Möchten Sie denn sterben?«, fragte er May sehr leise. Dem Hauptmann traten schier die Augäpfel aus dem Kopf, als er sich hochreckte, bis er fast auf den Zehenspitzen stand, und seine Nasenflügel blähten sich.
    May sah Rawlinson verwundert an. Die Verblüffung entfachte eine schwache Glut in seinem erloschenen Blick.
    »Die meisten Menschen wollen leben, denke ich«, fuhr Rawlinson im gleichen sanften Ton fort. »Wahrscheinlich halten die Kranken und Verwundeten, wie Sie einer sind, in den dunklen Nächten des anstrengenden Transports von der Front hierher nur deshalb durch, weil sie darauf vertrauen, dass sie geheilt werden, wenn sie sich erst einmal sicher in der Obhut unserer Lazarette befinden. Dass sie hier gerettet sind. Und doch starben in den vergangenen Monaten in Skutari Hunderte von Männern. In den Lazaretten versuchte man vergeblich, sie zu retten. Vielmehr haben die Zustände dort sie umgebracht, rascher und gewisser, als es der Feind mit der Macht seiner Kanonen und Gewehre je vermocht hätte.«
    In der einsetzenden Dämmerung schimmerten die Knöchel an den geballten Fäusten des Hauptmanns weiß wie Pfefferminzbonbons. Es schien, als würde er bei einem weiteren Anschlag auf sein Gefühl für militärischen Anstand geradewegs in die Luft gehen. Doch selbst wenn ihm dieses Kunststück gelungen wäre, hätten die beiden anderen Männer es wahrscheinlich gar nicht bemerkt. May stand reglos da; hellrote Flecken traten auf seine bleichen Wangen. Wie eine Kerzenflamme flackerte ein fahles Licht in seinen Augen auf, um sodann gleichmäßig weiterzubrennen. Außergewöhnliche Augen, dachte Rawlinson, die Iris fast golden, umgeben von einem grünlichen Rand, der aussah, als hätte man ihn mit Tusche eingefasst.
    »Es ist nichts Ruhmreiches und es dient weder der Königin noch dem Vaterland, an Ruhr oder Cholera zu sterben«, fuhr Rawlinson fort. Er sprach so leise, dass ihn der Hauptmann über das Grollen der Empörung hinweg, das in seinen Ohren tobte, kaum hören konnte. »Ich kann den Schaden, der hier bisher entstanden ist, zwar nicht wieder gutmachen. Aber ich kann und werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass sich die Verhältnisse

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