Der Vermesser (German Edition)
kam ihm gar nie in den Sinn, dass er eines Tages Skutari wieder verlassen müsste. Der Gedanke, zu Polly zurückzukehren und wieder in die gewöhnliche Zufriedenheit ihres gemeinsamen Lebens in London einzutauchen, lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Jene Welt, in der alles einen klaren Sinn hatte und die Menschen in der Dunkelheit die Arme ausstreckten, um einander zu ertasten, jene Welt war für ihn vollständig verloren. Sein Platz war hier in diesem überbelegten Schlafsaal, wo er dicht an dicht mit den anderen lag, alle geschwächt, unrasiert, ungewaschen, unter ihren Armeemänteln zitternd. Ein Obdachlosenheim für die Untoten, ein Ort, der unbelastet war von Gefühlen und Erwartungen, wo gestern und morgen nichts bedeuteten und unbeachtet verstrichen. Hier gehörte er hin.
Es war ein bewölkter Nachmittag Mitte März, als nach May geschickt wurde. Unter den Patienten auf den Genesungsschiffen kursierten bereits seit Wochen Gerüchte, dass Sewastopol frische Kräfte erhalten solle. Jeder, der in der Lage sei, sich ohne fremde Hilfe auf den Beinen zu halten, werde an die Front zurückgeschickt. Mit taumelnden Schritten bewegte sich May über den gefrorenen Schlammboden, angetrieben von dem streng blickenden Offizier, der ihn verächtlich mit dem Gewehrkolben vorwärts stieß. Er brauche ihm kein Schmierentheater vorzuspielen, blaffte ihn der Offizier mit unverhohlenem Abscheu an. May werde nicht sofort zur kämpfenden Truppe zurückkehren. Entsprechend den Empfehlungen der Hygienekommission seien umfangreiche Instandsetzungsarbeiten angeordnet worden, und alle Soldaten mit Kenntnissen im Ingenieur- oder Vermessungswesen würden herangezogen, um besagte Empfehlungen in die Tat umzusetzen. Als leitender Ingenieur des Projekts werde Mr. Rawlinson in Skutari bleiben und die Arbeiten überwachen. Rawlinson sei von höchster Ebene der britischen Armee umfassende Unterstützung zugesagt worden, teilte der Hauptmann May mit und verzog den Mund, als ekelte er sich vor diesen Worten. Rawlinson habe zwar keinen militärischen Rang, man erwarte jedoch, dass May seinen Anweisungen Folge leiste. Das, bellte der Hauptmann, sei ein Befehl.
Rawlinson warf dem Gefreiten über seine Halbbrille hinweg einen flüchtigen Blick zu. Dabei wurde ihm zum tausendsten Mal bewusst, dass er selbst eine seidig glänzende schwarze Jacke und einen gestärkten weißen Kragen trug. Obwohl er fast zwei Wochen in Russland gewesen war, bestürzte ihn der erbärmliche Zustand der Männer, denen er hier begegnete. Dieser nun war ein besonders trauriges Exemplar. Er war so ausgemergelt, dass seine Knochen weiß durch die Gesichtshaut zu schimmern schienen, und er verströmte den säuerlichen Geruch von Krankheit und Verwahrlosung. Nach allem, was Rawlinson über die in den Lazaretten herrschenden Zustände wusste, konnte sich dieser Mann glücklich schätzen, wenn er mehr als einmal in den vier Monaten hier in Skutari ein Bad gesehen hatte. Sein Uniformrock hing ihm in Fetzen von den knochigen Schultern, und das rotblonde Kopf- und Barthaar umrahmte in schmutzigen Büscheln sein Gesicht. Er sah aus, dachte Rawlinson, wie ein Löwe, den man zu lange eingesperrt hatte. Der gestrenge Hauptmann neben ihm in seinem scharlachroten Rock fügte sich nur ungern in die Rolle des Wärters. Gewiss wäre ihm ein anderes Tier lieber, eines, das seiner untadeligen militärischen Haltung mehr entspräche, ein prächtiger Araberhengst vielleicht oder ein Bengalischer Tiger.
»Gefreiter May«, sagte Rawlinson und verkniff sich dabei ein vertrauensvolles Lächeln, »Sie waren, wie ich höre, in London im Vermessungswesen tätig.«
Er blickte May erwartungsvoll an. Als der Gefreite nicht antwortete, räusperte sich der Hauptmann lautstark, um ihm sodann den Ellbogen in die Rippen zu stoßen. Langsam blickte May auf, blinzelte, als wäre der düstere Raum blendend hell erleuchtet, und fingerte mit seinen schmutzigen Händen an dem einzig verbliebenen Knopf seiner Jacke herum. Rawlinson schalt sich insgeheim selbst, dass es ihn unwillkürlich schüttelte vor Ekel.
»Nun?«, fragte Rawlinson in barscherem Ton, als es seine Absicht war. »Sprechen Sie, Mann.«
»Jawohl, Sir«, murmelte May. »Ich war im Vermessungsamt.«
»Man sagte mir, Ihre Gruppe sei zuständig gewesen für die Kartographierung der Londoner Abwasserkanäle, die vom Ersten Ausschuss des Amts für öffentliche Bauvorhaben angeordnet wurde. Im Maßstab eins zu eintausend, das ist doch richtig,
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