Der Vermesser (German Edition)
Mantelkragen hochgeschlagen und über die steinerne Brüstung der Brücke gebeugt, wurde sich Rose der ganzen Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen bewusst. Selbst wenn er jemanden finden würde, der ihn in die unterirdischen Kanäle führte, was dann? Ein Jammer, dass May nur eine vage Ahnung hatte, wonach Rose dort im Untergrund suchen sollte.
Mays Karte steckte noch immer in seiner Hosentasche. Er betastete sie. Mehrmals gefaltet, war sie kaum größer als eine Briefmarke, wenngleich mit spitzen Ecken. Auf der Brücke herrschte kaum Verkehr. Die Landstreicher benutzten die Brücke in Southwark, wo man keinen Zoll bezahlen musste. Selbst an einem so bitterkalten Abend wie diesem kauerten sie sich dort in Mauernischen, dicht zusammengedrängt, um einander zu wärmen, bis die Polizei sie verscheuchte. Hier jedoch begegnete ihm nur ein Einspänner, dessen Kutscher sich in eine Decke eingewickelt hatte, so dass unter dem Hut bloß seine Nasenspitze zu sehen war. Seine Peitsche knallte wie brechendes Eis, als er sein Pferd antrieb.
Seufzend sah Rose den Fluss hinunter. Es war Ebbe, und die feuchten, klebrig glänzenden Dreckfladen verströmten den typisch winterlichen Gestank nach Salz und faulen Rüben. Die Kälte kroch Rose unter die Ärmel und den Kragen und drang durch den durchgescheuerten Mantelstoff. Hastig zog er seinen Schal fester um den Hals, bevor er die Hände schnell wieder in den Hosentaschen vergrub. Das zusammengefaltete Papier schabte an seinem Daumenballen. Er drehte es in seiner Manteltasche, während er sich über die Brüstung beugte. Ein leichter Wind war aufgekommen, der über den Fluss strich und kleine, einander überlappende Wellen aufwirbelte. Sie glitzerten, als der Mond hinter einer Wolkenbank hervorkam und einen silbrigen Schein aufs Wasser warf. Die Themse kam ihm vor wie ein riesiges, schwarzes Meeresungeheuer. Es schlängelte sich in seinem Graben durch die Stadt auf seinen Bau unter dem offenen Meer zu. Eine groteske Bestie, die den Abfall dieser größten Stadt der Welt verschlang und nur halb verdaute. Unablässig verschlang ihr weit aufgerissener Rachen die verrottende Vegetation, die Exkremente und die Toten dieser Stadt. Ihr Appetit war gewaltig, sie war nicht wählerisch und reckte ihre Tentakel sogar in die Eingeweide der Stadt, um an deren widerlichen Ausscheidungen zu lecken. Einen Fetzen Papier könnte dieses Ungeheuer mühelos verdauen. Rose musste nur die Hand öffnen und den Zettel auf seinen gewaltigen Rücken fallen lassen. Der Fluss musste nur einmal mit seinem fleischigen Rückgrat zucken, und der Zettel wäre verschwunden, fortgespült unter die London Bridge, den Pool entlang, vorbei an dem verrostenden Gefängnisschiff in Woolwich. Die Zellen dort hatten keine Fenster. Der Papierfetzen würde unbemerkt ins Meer geschwemmt, seine Fasern würden sich im Wasser auflösen. Oder vielleicht würde das Schicksal mit seiner Vorliebe für billige Groschenromane ihn unter dem modernden Bauch des Schiffes festhalten – ein Brief, der ungeöffnet an den Absender zurückging, Empfänger unbekannt. Vielleicht würde der Zettel auch dann noch an dem schrundigen, dunklen Metall haften, wenn May nach Newgate gebracht und gehängt wurde.
Sagen Sie ihr, ich mache einen Plan für ihren Garten.
Rose erschauderte. Er fror bis auf die Knochen, und an seiner rechten Schläfe spürte er einen bohrenden Schmerz. Die kraftvollen Windungen des Flusses verursachten ihm Übelkeit. Die Hände noch tiefer in den Taschen vergraben, ging er stampfend auf demselben Weg zurück, den er gekommen war. Der Zettel schnitt ihm in den Handteller. Er drückte zu und fand Trost in diesem Schmerz. Jetzt ging er zügiger und ohne nachzudenken. Mit beträchtlicher Ungeduld steuerte er auf einen Menschenauflauf zu, der die schmale Gasse kurz vor dem Inner Temple versperrte. Die Gaslampe über den Köpfen war so weit aufgedreht, dass sie ein dröhnendes Geräusch von sich gab; in ihrem grellen Licht trugen die Gesichter dunkle Schatten. Leise vor sich hin murmelnd, wollte sich Rose an den Leuten vorbeidrücken, als ein untersetzter Mann seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er trug einen Lederhut mit Nackenschutz und hohe Lederstiefel und blickte, eine Laterne in der Hand, stirnrunzelnd auf den Boden zwischen seinen Füßen; an seinem Bein lehnte eine schwere runde Metallplatte. Neben ihm stand ein Polizist, der ebenfalls eine Laterne bei sich hatte. Rose stutzte, ehe er einen Mann mit Zylinderhut zur Seite
Weitere Kostenlose Bücher