Der Vermesser (German Edition)
schob. Der Polizist hob warnend die Hand, deren quadratische Innenfläche dreckverschmiert war.
»Halt, Sir, treten Sie nicht zu nahe heran. Schließlich ist das hier kein Jahrmarktsvergnügen.« Er warf den neugierigen Zuschauern, die sich bereits langsam zerstreuten, einen wütenden Blick zu. »Wir möchten nicht, dass etwas passiert.«
Rose sah zu Boden. Das kreisrunde Loch im Kopfsteinpflaster maß etwas mehr als einen halben Meter Durchmesser. In den senkrecht nach unten führenden, mit Backsteinen gemauerten Schacht waren Eisenverstrebungen eingelassen. Rose stand plötzlich das Bild vor Augen, wie Tom dort unten lag, tot, und seine Leiche knochig-weiß im schmutzigen Abwasser trieb, und mit dem Schrecken darüber überkam ihn ein schlechtes Gewissen.
»Was … ist etwas passiert?«, fragte er.
Der Polizist zuckte die Achseln und rieb sich mit dem Handrücken die Knubbelnase. »Der Konstabler hat durch das Gitter beim King’s Court Licht gesehen. Und es ist ja unsere Pflicht, den Kerlen nachzuspüren. So sind die Vorschriften.«
Rose starrte den Polizisten an. »Die Polizei hat Zugang zu den Abwasserkanälen?«
»Die Ausspüler gehen runter«, stellte der Polizist richtig und verzog angewidert das Gesicht. »Gott schütze sie.«
»Aber Sie haben die Befugnis, sie runterzuschicken, nicht wahr? Jederzeit? Ohne erst die Erlaubnis von der Abwasserkommission einzuholen?«
»Wie sollten wir sonst für Recht und Ordnung sorgen?«
Die Kriminalbeamten, die mit dem Fall May beschäftigt waren, zeigten sich durch Roses Forderung mehr als verstimmt. Nach der scharfen Kritik im Zusammenhang mit einer Serie unaufgeklärter Verbrechen waren die Zeitungen voll des Lobes darüber, wie schnell in diesem besonders grausigen Fall der Schuldige gefasst worden war. Es war spätabends, und sie wollten nach Hause. Roses Hartnäckigkeit kam für sie ebenso überraschend wie ungelegen. Laut Vorschrift sei Unbefugten der Zutritt zum Kanalsystem zu verwehren, teilten sie Rose herablassend mit; ihre Aufgabe sei es nicht, jedermann freien Zugang zu ermöglichen. Aber Rose ließ nicht locker. Der pochende Schmerz hinter seinen Augen und die niederschmetternde Erkenntnis, dass er seine Rechte als Anwalt des Gefangenen bisher gar nicht wahrgenommen hatte, ließen ihn mit unnachgiebiger Härte auf seiner Forderung bestehen. Die Polizeibeamten mochten seine Bitte als bedeutungslos und lästig wie das Summen einer Hornisse ansehen, dennoch waren sie gesetzlich verpflichtet, sie zu erfüllen, sowenig ihnen das auch behagte. Als ihnen klar wurde, dass sich Rose nicht abwimmeln ließ, stimmten sie unter beträchtlichem Seufzen und Kopfschütteln zu. Sobald Rose einen geeigneten Termin mit einem der Vorarbeiter verabredet hätte, um in das Abwassersystem hinunterzusteigen, würden zwei Wachtmeister zu seiner Begleitung abkommandiert. Die Stimmung des Polizeiinspektors hellte sich ein wenig auf, als er zur Erfüllung dieser unappetitlichen Pflicht zwei Männer beorderte, die er am wenigsten leiden konnte.
Am folgenden Morgen fand sich Rose wie vereinbart an der Ausschachtung Ecke Hyde Park ein. Er musste mehr als eine Stunde warten, ehe der Vorarbeiter von unten hochkam. Das westliche Ende von Piccadilly war für den Verkehr gesperrt, und rings um Rose drängten sich Droschken und Kutschen, die sich durch die engen Gassen von Mayfair kämpften. Wo ehemals die Straße gewesen war, klaffte jetzt ein mehrere Meter breites Loch, ausgekleidet mit Holzverschalungen und umgeben von riesigen Gerüsten, Balken und Kränen. Ein ganzes Heer von Erdarbeitern und Schubkarrenfahrern, von Pferden und Dampfmaschinen war hier am Werk und wälzte riesige Erdhaufen, Lehm, Backsteine und Holzplanken um. Es wurden Pickel, Spaten und Hämmer geschwungen, und die Rufe der Arbeiter und das Scheppern ihrer Werkzeuge gingen in dem tosenden Lärm einer Maschine unter, die sich in den gefrorenen Boden graben zu wollen schien. Mays Welt. Angesichts der Meisterleistungen, deren die Ingenieurkunst Londons fähig war, hätte sich Roses gedrückte Stimmung heben müssen, aber die ganze Anlage erinnerte ihn an eine gewaltige Guillotine über einem offenen Grab. In der vergangenen Nacht hatte er geträumt, er hätte, noch lebendig, aber unfähig, zu sprechen oder sich zu bewegen, mit lähmendem Schrecken zusehen müssen, wie ein Totengräber seinen reglosen Körper in ein Leichentuch wickelte. Als er aufwachte, hatte sich ihm das Bettlaken wie eine Zwangsjacke um die
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