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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Mr. May war das anders. Er trieb sich so lange in den Kanälen herum, bis die Ausspüler des Wartens müde wurden. Schon bald wurde die Regelung getroffen, dass man ihn allein ließ, nachdem man ihn in den richtigen Kanalabschnitt gebracht hatte. Ein Seil markierte die Strecke zum nächstgelegenen Ausgang hinter ihm; einer der Ausspüler blieb oben, um Bescheid zu geben, falls das Wetter umschlug oder sonst eine Gefahr drohte. Nach ihrem Umzug nach Lambeth hatte Polly vorgeschlagen, William solle doch in dem überwucherten Erdreich hinter ihrem Häuschen einen Gemüsegarten und Beete für die Blumen anlegen, die er immer so geliebt hatte – ein Refugium voller Duft und Farben, das sich von den dunklen, stinkenden Abwasserkanälen unterschied wie Schnee von Ruß. Sie brachte einen Samenkatalog mit nach Hause und legte ihn abends neben seinen Teller. Er schlug ihn nicht einmal auf. Er konnte es einfach nicht. Ein Garten war unmöglich, vollkommen unmöglich. Die dunklen, stinkenden Abwasserkanäle dagegen zogen ihn geradezu magisch an.
    Anfangs waren die Kanäle nur ein geheimes Reich der Finsternis, wo er sich ins Fleisch schneiden konnte. Die Intensität seiner Sucht, sich mit dem Messer zu verletzen, erschreckte William und widerte ihn an, aber er war machtlos dagegen. Der Drang war stärker als er und nahm immer weiter zu, bis William bald völlig davon beherrscht wurde. Verstand und Gefühl waren ausgelöscht bis auf das drängende Verlangen nach der Klinge, die sein Fleisch entflammte. Und sosehr er sich davor fürchtete, so sehr verzehrte er sich danach. Wo immer er arbeitete, versteckte er ein Messer unter einem lockeren Backstein in der bröckelnden Mauer, um jederzeit eines zur Hand zu haben. In seinem Lederbeutel trug er heimlich eine Bandage bei sich. Polly blieb dies natürlich nicht immer verborgen. Sie tadelte ihn sanft und neckte ihn wegen seiner Achtlosigkeit im Umgang mit den Werkzeugen, aber da er stets beharrlich schwieg, wechselte sie rasch das Thema. Sie wollte nicht in ihn dringen und alles verderben. An den Tagen, an denen er mit einer Bandage um den Arm nach Hause kam, war er wieder der William, den sie von früher kannte. Er war liebevoll, ja sentimental. Dann streichelte er ihre Wangen und nannte sie seine kleine Kreuzblume, und in seinen Augen standen Tränen. Er hob seinen Sohn auf seinen Schoß, küsste sein goldblondes Haar und achtete darauf, nicht zusammenzuzucken, wenn sich das Kind selig in seine Arme schmiegte. An diesen Tagen waren sie glücklich.
    Hinter seinem Rücken nannten die anderen Ingenieure William den König der Kloaken. Obwohl sie wussten, dass er peinlich auf Sauberkeit achtete, hielten sich einige demonstrativ die Nase zu, wenn er in den Korridoren an ihnen vorüberging. Es war ein harmloser, jedoch nicht von Zuneigung getragener Spott. Man hielt May für hochmütig und nahm es ihm übel. Wäre William von hohem Stand gewesen, hätte man seine Zurückhaltung zweifellos respektiert und für angemessen erachtet; aber vom Sohn eines einfachen Krämers mit so kühlem Stolz behandelt zu werden, das konnten sie einfach nicht hinnehmen. Viele, die in der Greek Street arbeiteten, hatten Verbindungen zur Armee, und bald machten Gerüchte von einem alles andere als tapferen Militärdienst im Krimkrieg, von einer unehrenhaften Entlassung, ja sogar von einer Fahnenflucht Williams die Runde. Zu Beginn seiner Tätigkeit bei der Behörde waren Williams Ruf und Ansehen dank Robert Rawlinsons persönlicher Empfehlung makellos gewesen. Jetzt legten sich die Gerüchte wie eine klebrige Staubschicht über ihn und trübten dieses Bild. William war sich dessen bewusst; und aus Angst, noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, zog er sich immer weiter zurück. In seiner schmalen holzgezimmerten Arbeitsnische saß er stets mit tief gesenktem Kopf über den Schriftstücken, und wann immer sich die Möglichkeit bot, flüchtete er sich in die Einsamkeit der Abwasserkanäle. Zumindest an seiner Arbeit konnte niemand etwas aussetzen. Seine Inspektionen waren gründlich und genau, seine Vorschläge wohl überlegt. Zur großen Genugtuung seiner Kollegen wurde ihm schon bald die gesamte Last der Routineinspektionen aufgebürdet. Von da an verbrachte er einen Teil des Tages geduckt unter der Granitdecke der Stadt.
    Die Monate vergingen. Und noch immer verspürte er diesen unstillbaren Drang, sich zu verletzen. William merkte, wie sich die Sucht in ihm aufbaute, wie sie sich schleichend und

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