Der Vermesser (German Edition)
der Dunkelheit aufhielt, für den war London nicht mehr vorstellbar.
Williams Tätigkeit bestand zum größten Teil aus eintönigen, sich wiederholenden Verrichtungen, doch diese Regelmäßigkeit befriedigte und tröstete ihn. Nach und nach erschloss sich ihm die Anlage des alten Kanalisationsnetzes und dessen weit verzweigtes Labyrinth aus Venen und Arterien. Und langsam – so langsam, dass er es sich selbst nicht einzugestehen wagte – ließ auch der Drang nach, sich Verletzungen zuzufügen. Es vergingen zwei Wochen, dann drei, ohne dass er sich schnitt. Die Zeit verrann fast unmerklich, und die innere Ruhe, die ihn erfüllte, wenn er sich selbst verletzt hatte, hielt länger vor: einen Tag, dann mehrere Tage, manchmal eine ganze Woche. Zu Hause in Lambeth gelang es ihm sogar, beinahe aufmerksam dem Geschwätz seiner Frau zuzuhören und mit dem kleinen William zu spielen, ohne auf dessen kindliche Wünsche barsch und abweisend zu reagieren. Dank des beruhigenden Laudanums fand er nachts einen sanften und traumlosen Schlaf. Wenn sich Polly auf seine Seite rollte, schrie er nicht mehr laut auf vor Angst, sondern schmiegte sich in die Rundung ihres Körpers und schlief weiter.
In den Büroräumen der Greek Street hallte ihm kein Gerede seiner Kollegen mehr wie ein verzerrtes Echo in den Ohren. William versuchte sich an freundlichen Bemerkungen, und seine Lippen formten dabei die passenden Worte. Er lächelte, zaghaft vielleicht, aber im richtigen Augenblick. Für ein herzliches Verhältnis war es zu spät, aber die frostige Kälte, die seine Kollegen bisher im Umgang mit ihm an den Tag gelegt hatten, erwärmte sich mit der Zeit auf Zimmertemperatur. May war ein komischer Kauz und würde es immer bleiben, darin waren sich alle einig. Aber seine Vergangenheit – die wirkliche wie die ihm unterstellte – war nun nicht mehr Gegenstand heimlichen Getuschels. Er war ein tüchtiger Bursche, unbescholten und höflich. Was von ihm verlangt wurde, das tat er, ohne zu murren oder viel Aufhebens zu machen. Er war es zufrieden, Aufgaben zu übernehmen, die andere scheuten. Nach einem Jahr gehörte er zum Inventar wie die schmalen, längs unterteilten Fenster, die auf den Soho Square mit seinen graugrünen Büschen zeigten; die anderen Mitarbeiter der Behörde würden ihn gewiss vermissen, wenn er eines Tages nicht mehr da wäre, wie sie auch die Fenster vermissen würden. Doch solange er hier an seinem Platz war, schenkte man ihm nicht weiter Beachtung.
Anders Bazalgette. Bei mehr als einer Gelegenheit hatten Williams Sorgfalt und Sinn fürs Detail die Aufmerksamkeit des leitenden Ingenieurs erregt, und er verfolgte seine Tätigkeit mit Interesse. Die Mehrzahl seiner Mitarbeiter war durchaus qualifiziert, fast alle hatten eine bessere Ausbildung und verfügten über größere theoretische Kenntnisse im Ingenieurwesen als May. Aber keiner, der unter seiner Leitung tätig war, ob als Ingenieur oder als Vermesser, kannte die Abwasserkanäle Londons in ihrem jetzigen verwahrlosten Zustand genauer als May. Aus den Aufzeichnungen ergab sich, dass May bis Ende 1857 mindestens fünfmal so viel Zeit im Kanalnetz verbracht hatte wie jeder andere Vermesser. Seine Mauerproben, die das Ausmaß des Verfalls dokumentierten und, aus verschiedenen Tunnelabschnitten und unterschiedlicher Höhe entnommen, in Kisten verpackt und mit sauberer Handschrift sorgfältig etikettiert waren, füllten fast einen ganzen Raum im vierten Stock. Als sich Bazalgette der Frage zuwandte, welcher Backstein und welcher Mörtel am wenigsten wasserdurchlässig waren, ließ er seinen Sekretär einen Tisch in dem besagten Raum aufstellen, damit er dort, die Proben vor sich ausgebreitet, arbeiten konnte. Ohne fließendes Wasser war keine Dränage möglich, so viel stand fest. Aber ebenso wenig – zumindest nach Bazalgettes Ansicht – konnte man ohne Backsteine und Mörtel Hauptkanäle für eine Stadt mit fast drei Millionen Einwohnern bauen. Für das Abwasser der einzelnen Straßenzüge ließen sich Rohre aus lasiertem Ton verwenden, aber diese Abwässer mündeten zwangsläufig in einen Hauptstrang mit einem Fassungsvermögen von mehreren Millionen Litern Wasser täglich. Um sicherzustellen, dass eine solche Durchflussmenge bewältigt werden konnte, entwarf Bazalgette bereits in seinen allerersten Plänen Hauptkanäle, die dreieinhalb Meter breit und bis zu vier Meter hoch waren. Nirgendwo auf der Welt konnte eine Rohrleitung in solchen Dimensionen gebaut
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