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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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bedrohlich zwischen seinen Rippen ausbreitete. Wenn sich die Schwärze wie Tinte zwischen den feinen Verästelungen seiner Lunge verteilte und ihre Knöchel in das weiche Fleisch seines Halses drückte, verkroch er sich in die unterirdischen Kanäle. Er hätte andere, leichter zugängliche Orte finden können, wo er sein Verlangen hätte stillen können, ohne entdeckt zu werden. Zum Beispiel in dem einzigen, gefliesten Wasserklosett in der Greek Street oder in der mitternächtlichen Stille seines Hauses in Lambeth, wenn Polly und das Kind schliefen. Aber es zog ihn immer in die Tunnel. Hier waren die moralischen Wertmaßstäbe außer Kraft gesetzt. Hier galten nicht die strengen und unveränderlichen Verhaltensregeln der Menschen oben, die direkt über ihn hinwegeilten und deren Füße den Granitboden über seinem Kopf berührten. Die strikten Grenzen zwischen richtig und falsch, Ehrlosigkeit und Wohlanständigkeit verwischten und verflüchtigten sich hier im Untergrund. Die Dunkelheit nahm ihn auf, ohne Fragen zu stellen oder ihn zu verurteilen, sie umfing ihn in stummer Umarmung. Die Dunkelheit kannte keine Neugier und keine Erinnerung. Hier gab es nur Stille, Einsamkeit und Sicherheit und jene unvergleichlich großartige Explosion des Selbstgefühls, wenn das Messer ins Fleisch eindrang.
    Es war ein warmer Abend im Mai, als William wieder einmal in den Untergrund taumelte. Die Stadt döste vor sich hin, strahlte in sanftem, lilafarbenem Licht, der fahle Himmel durchwirkt von Gold und Hellrosa. William bemerkte nichts davon, als er zum Abwasserkanal in der King Street hastete. Sein Speichel schmeckte sauer, bitter und metallisch. Er atmete in kurzen, quälenden Stößen. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Der Einstiegsschacht in der Dean Street war verschlossen gewesen. Minutenlang hatte er sich vergeblich bemüht, den Deckel anzuheben, hatte die Finger durch das Eisengitter gezwängt und versucht, es zu öffnen. Jetzt packte ihn die Schwärze, stieß ihm die Ellbogen in die Brust und wühlte in seinen Eingeweiden. Sie riss ihm die Arme auseinander und presste sich bis in die Fingerspitzen hinein, drückte mit solch entsetzlicher Gewalt gegen seine schmutzigen Nägel, dass sich William vor Verzweiflung in die Finger biss. Der Blutgeschmack in seinem Mund versetzte ihn in einen solchen Taumel, dass er glaubte, laut aufschreien zu müssen. Er fing an zu rennen. Die Schwärze überflutete seinen Kopf, und er sah nur noch den nächsten Pflasterstein und wiederum den nächsten. Sein Herz nahm den wild hämmernden Rhythmus seiner Stiefel auf. Das Metallgehäuse seiner Laterne schlug ihm schmerzhaft gegen den Oberschenkel, doch er spürte es kaum. Er rannte, schneller, immer schneller. Um die nächste Ecke. Und da war sie, die Baracke der Ausspüler, die wie ein Schilderhäuschen dastand. William besaß den Generalschlüssel. Seine Hand zitterte so sehr, dass sie kaum seine Rocktasche fand. Der Schlüssel hatte sich im Futter verfangen. In blinder Verzweiflung und rasender Hast riss William den Schlüssel heraus und steckte ihn mit zittriger Hand ins Schloss. Die Tür ging auf. William stolperte fast in die Öffnung, seine Füße ertasteten kaum die Eisensprossen, die in die Wand eingelassen waren. Sofort überfiel ihn der Gestank, der Gestank nach Kot und Meer und maroden Backsteinen, den er gierig einsog. Tränen drängten ihm zwischen den zusammengepressten Lidern hervor, als er durch die Dunkelheit hastete, die ihn sanft umfing. Endlich hatte er die Stelle erreicht; er lehnte sich an die feuchte Wand und tastete nach dem Messer. Das Wasser stand hoch, es reichte ihm fast bis zu den Knien. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Er würde nicht lange bleiben. Seine Hände zitterten nicht mehr. Mit ruhiger Hand schnitt er sich. Für einen unendlichen Augenblick stand sein Herz still, gebannt von der vollkommenen Schönheit der Ekstase, dann hämmerte es los. Blut sickerte aus seinem Arm. Frohlockend ließ William das Messer sinken, den Griff mit der Faust umklammernd. Die Schwärze verharrte noch kurz wie das Echo eines Schreis in der Luft, ehe sie sich auflöste. William war wieder er selbst. Er war frei.
    Wenig später entzündete er die Laterne, um sich auf den Rückweg zu machen. Dieser Teil des Kanalnetzes war ihm nicht vertraut. Und bald merkte er, dass er sich verlaufen hatte, was ihn jedoch nicht weiter beunruhigte. Der Abwasserkanal in der King Street besaß mehrere Ausgänge. Einige waren erst vor kurzem mit

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