Der Vermesser (German Edition)
Tasche gelegt. Ihm fehlte die Kraft für weitere Fragen. Er nahm kaum wahr, wie Rawlinson ihn nach oben schleppte und auf die blanke Erde legte. War er in seinem Zelt? Vielleicht. Er war nicht mehr im Fluss, das wusste er, aber dieses Wissen lag wie in weiter Ferne und bot keine Erleichterung. Angeschoben von Rawlinsons Hand zwischen seinen Schulterblättern, stolperte er ein paar Schritte weiter. Die Luft war jetzt anders. Der Wind blies so kalt durch seine durchnässte Kleidung, dass er heftig zitterte. Dann gaben seine Knie nach. Der Boden war hart und zerfurcht. Rawlinson beugte sich einen Moment über ihn, knöpfte ihm die Kleider auf und bettete ihn zum Schlaf. Dann war er verschwunden. May legte den Kopf in den gefrorenen Schlamm und schloss die Augen.
XII
D as Auftauchen des Fremden hatte Tom gehörig aus der Fassung gebracht. Es war schon spät, und der Wasserpegel stieg, weshalb er sich in Sicherheit wiegte, dass ihnen die Abwasserkanäle jetzt allein gehörten. Er wollte nur noch einmal schnell hinunter, denn der Kampf stand kurz bevor, und Lady sollte ausgeruht sein. Doch dann verfiel er auf die Idee, etwas wie einen Glücksbringer für sie zu suchen. Der Gedanke ergriff Besitz von ihm wie Unkraut, das alles überwuchert. Es brauchte nichts Besonderes zu sein. Eine Münze vielleicht, die er ihr wie ein Medaillon um den Hals binden würde. Er hatte nicht vor, sich große Umstände zu machen. Erst als er in die Nähe seines Reviers kam, das er früher regelmäßig durchstreift hatte, fand er, dass es nichts schaden konnte, wie in früheren Tagen unter ein paar Gitterrosten herumzusuchen. Schließlich blieb noch genügend Zeit, und als Kanaljäger hatte er gelernt, seinem Instinkt zu folgen. Man wusste ja nie, was man aufstöbern würde.
Er befand sich unmittelbar unter dem Gitter am östlichen Ende des Regent Circus, als er ihn hörte. Es war ein komplizierter Schacht mit einem langen Gully, so dass man sich, um die Hand in den Schlamm zu tauchen, auf einen Mauersims legen und den Arm fast bis zur Schulter in den Dreck stecken musste. Lady lag lautlos auf Toms Rücken und verlagerte jedes Mal, wenn er sich bewegte, das Gewicht. Er konnte sich nicht erinnern, wann er hier das letzte Mal nach etwas Verwertbarem herumgefischt hatte. Gewöhnlich machte man an dieser Stelle ganz ordentliche Funde. An der Kreuzung zur Shaftesbury Avenue gab es einen Droschkenstand, und was hier in den Schmutz fiel, blieb meist achtlos liegen. Dennoch war Vorsicht geboten. Das Gitter führte direkt von der Straße aus hinunter, und wenn die Polypen zwischen ihren Stiefeln zufällig einen Blick in die Tiefe warfen, konnte man von Glück reden, wenn sie einem nicht direkt ins Gesicht starrten. Die kleinste falsche Bewegung, und sie würden über ihn herfallen. In dem ohrenbetäubenden Verkehrslärm konnte einem leicht entgehen, wenn jemand von hinten kam.
Um diese Schritte zu überhören, musste man allerdings stocktaub sein. Tom zog den Arm mit einer leichten Drehbewegung heraus, damit der Schlamm kein Geräusch verursachte, ließ sich den Sims entlang ins Wasser gleiten und hob Lady auf den Arm. Das Wasser stand hoch, zu hoch. Besser, er schlüpfte durch den Gully hinaus. Lady leckte ihm das Ohr, aber er wehrte sie ab, um zu lauschen. Sie hatten Glück. Das Geräusch kam aus östlicher Richtung. Wendig wie ein Fisch schlug Tom in der schwarzen Flut die westliche Richtung ein und watete auf die Höhle zu.
Die Höhle war ein niedriger, etwas erhöht liegender Raum, eine lange, flache Stufe oberhalb des Hauptkanals, wahrscheinlich einmal die Mündung eines Zuflusses. Vor vielen Jahren, als Tom noch ein Kind war, fand hier ein alter Kanaljäger, so erzählte man sich, einen im Schlamm vergrabenen Anker, mit dem er sein Glück machte. Er verkaufte ihn an den Staat; bis heute, so die Geschichte, werde der Anker in einer Glasvitrine aufbewahrt, irgendwo drüben in Greenwich, wo die Leute einen Shilling bezahlten, um ihn zu begaffen. Tom zweifelte zwar an der Wahrheit dieser Geschichte, aber solange er denken konnte, hatte es in dieser Höhle nie Wasser gegeben. Und ohne von Wasser durchspült zu werden, musste die Höhle verrotten. Schon nach wenigen Metern versperrte herabgestürztes Mauerwerk den Weg. In den letzten Jahren hatte ein weiterer Einsturz auch den Zugang fast ganz verschüttet, und so konnte niemand, der nicht eingeweiht war, hier eine Höhle vermuten. Allerdings war sie so niedrig, dass man darin nur kauern konnte,
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