Der Vermesser (German Edition)
schwerfällig vor Kälte, tastete er verzweifelt die schleimigen Wände ab. Sein ganzer Körper schrie, sein fauliges Blut eine dickflüssige schwarze Säure, die ihm Fleisch und Knochen wegätzte. Er spürte seine Füße nicht mehr, rang nach Luft, stolperte und wäre beinahe gestürzt. Als er sich abstützte, schlug er mit den Knöcheln an die rauen Kanten seines Schlupfwinkels im Mauerwerk. Er hatte die Stelle gefunden.
Das brennende Verlangen gellte ihm in den Ohren, während er in fliegender Hast die Wand nach dem losen Backstein absuchte und sich die Finger an dem scharfen Mörtel aufriss. Endlich gab etwas nach. Die Sekunden, die es dauerte, den Stein herauszuziehen, waren unerträglich. Er schleuderte den Backstein in den Tunnel, mit der anderen Hand packte er das Messer. Ein Aufplatschen, gefolgt von einem leisen Stöhnen. Die dicke schwarze Flut wirbelte um ihn herum, stand ihm schon fast bis an die Oberschenkel. Er zerrte ungeduldig an seinem Jackenärmel. Verwesungsgestank hüllte ihn ein, Todesgestank. Nun konnte er sie erkennen, verstreut entlang des grauen Ufers, die verschrumpelten Körper seiner Kriegskameraden, schwarz wie Ruß. Von irgendwoher war Kanonendonner zu hören, gedämpft durch den Schnee oder die Entfernung. In der Dunkelheit flammten feurige Blitze auf. Sein Arm schrie nach der Klinge, doch die Angst war stärker, sie saugte seine Füße in den dicken Schlamm des Schützengrabens. Heute Nacht würde es keine Ablösung geben, keine Morgendämmerung, die ihn zurückrufen würde. Der Feind hatte ihn umzingelt, kam näher und näher, kroch unerbittlich und tausendfach auf ihn zu wie ein verklumpter grauer Pflug, unhörbar im Schnee. Sie kamen von links und von rechts, schlichen sich von hinten heran und von vorn, ihre grauen Arme streckten sich aus dem Nebel über ihm aus, ihre Bajonette stachen von unten durch die Erde auf ihn ein. Sie alle hatten nur ihn im Visier, enger zog sich der Kreis, immer enger. Es waren jetzt ganze Kolonnen, die näher und näher rückten. Ihre Zahl nahm kein Ende. William drückte sich noch tiefer in seine Mauernische, den Messerknauf umschlungen wie ein kleines Kind. Sein Atem kam in hastigen Stößen. Er konnte sich nicht mehr bewegen.
Jetzt waren sie über ihm. William hörte ihr Stöhnen, den feuchten Sog ihres Atems. Sie waren seinetwegen gekommen, mit gezückten Bajonetten. Er sah, wie sie unbarmherzig vorwärts rückten und ihre Klingen wieder und wieder in das dicke Fleisch der Nacht rammten. William würde sterben, hier in dieser brutalen Hölle aus Schlamm und Eis. Seinen Leichnam würde man mit tausend anderen in eine Grube werfen, und der Schlamm würde ihm den Mund füllen und sich auf die aufgerissenen Augen pressen. Die Angst würgte ihn, wühlte in den Eingeweiden und bohrte sich in das Fleisch zwischen seinen Rippen. Er wollte nicht sterben. Er durfte nicht sterben. Seine Hände umklammerten den Messerknauf. Ohne seine Haut zu ritzen, ließ er die Klinge ganz vorsichtig über den Hals und die entblößten Arme gleiten. Die Russen stolperten durch die Nacht. Sie waren jetzt nah, ganz nah. Jemand schrie auf, ein tiefer gurgelnder Laut, wie wenn Wasser in einen Abfluss gesogen wird. Williams Angst schoss krachend in die Klinge und ließ sie aufblitzen. Mit einem Mal war sein Kopf von heißem, schwarzem Blut überschwemmt. Er stürzte aus seinem Versteck und stach blindlings um sich. Er war nicht mehr allein. Noch jemand befand sich hier in der Dunkelheit. Die Luft war erfüllt vom Stöhnen des Feindes, als die niedergemetzelten Männer zuhauf in den Strom fielen und das Wasser in der finsteren Nacht silbrig aufspritzte. Sie stürzten übereinander, ihr Blut bildete schwarze Pfützen auf dem schmutzigen Grau ihrer Mäntel. Einer war jetzt ganz nah. William drückte sich wieder in seine Mauernische. Er sah ihn nur für einen Augenblick, das Gesicht ein blasser Mond im fahlen Schein seiner Lampe, als er etwas in einen Spalt zwischen den Sandsäcken presste, die den Schützengraben säumten. Aber William kannte ihn. Die Wachablösung. Der Soldat sagte kein Wort, sondern wandte sich ab und lief den Graben entlang auf den Wachposten zu. William war gerettet. Von hinten war ein langes, grässliches Stöhnen zu hören, als das Leben aus dem Körper eines Mannes rann wie Sand. Verzückt und mit geschlossenen Augen hob William das Messer und stieß die Klinge wieder und wieder in den Haufen Leichen vor ihm. Der stumme Schrei des Schmerzes in seinem Arm war
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