Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
Toms Hand strich mechanisch über Ladys Kopf; die Adern traten auf seinem Handrücken hervor wie Schnüre, die sich um die Knöchel wanden und die Finger mit dem Handteller verbanden. Er betrachtete seine auf- und abwärts fahrende Hand und hatte das Gefühl, sie gehörte einem Fremden.
    Der Captain kommt nicht.
    Er konnte es nicht fassen. Fast einen Monat lang hatte er diesem Augenblick mit banger Hoffnung entgegengefiebert, hatte die Tage mit einem flauen Gefühl in der Magengrube an den Fingern abgezählt, aber mit der festen Gewissheit, dass dieser Tag sein ganzes Leben verändern würde. Die letzten Wochen hatte er kaum mehr Angst gehabt, dass ihn der Captain betrügen würde. Zu viel war inzwischen geschehen. Tom wusste einfach zu viel. Als er dem Captain das Notizbuch ausgehändigt und ihm gesagt hatte, der Tote habe keine Schriftstücke bei sich getragen, spürte Tom, dass er ihm nicht glaubte. Aber was hätte der Captain schon tun können, nachdem Tom darauf beharrte? Und von dem Augenblick an hatte Tom sich in Sicherheit gewiegt. Doch jetzt, plötzlich und ohne Vorwarnung, war alles aus und vorbei. Es würde ein ganz gewöhnlicher Abend sein. Nicht schlimmer als sonst und besser als manch anderer. Ein Abend, den man eine Woche lang nicht vergessen würde. Trotz der Wette, trotz allem, was zwischen ihnen geschehen war, blieb der Captain einfach weg. Es würde keinen Kampf geben. Und keine hundert Guineen.
    Das Gefühl der Verzagtheit lief ihm wie ein Rinnsal aus Schweiß den Rücken hinunter. Keine hundert Guineen. Obwohl noch gar nicht gewonnen, hatte dieses Geld seit Wochen sein Denken beherrscht – goldener Weizen, der aus einem Sack hervorquoll. Und jetzt würde der Captain nicht kommen. Unwillkürlich überkam Tom ein fröstelnder Schauder. Der Captain hatte ihn ausgetrickst, hatte ihn wie einen alten Putzlumpen behandelt. Nun stand er mit heruntergelassenen Hosen da, und die Ohren klingelten ihm von hundert leeren Versprechungen. Wut und Enttäuschung hinterließen einen bitteren Geschmack in seinem Mund, und seine Hände verkrampften sich so sehr, dass Lady sich schüttelte, um sich seinem Griff zu entwinden. Der Captain hatte einen wie Tom gebraucht, um seine Begleiter zu belustigen und die Untaten seines Freundes zu vertuschen. Und er, der mit allen Wassern gewaschene Langarmige Tom, der sich für einen aufgeweckten Burschen hielt und sich einbildete, niemand in der ganzen großen Stadt könne ihn austricksen – dieser Langarmige Tom war wie ein Fisch geködert worden, und während man ihn an der Leine einholte, hatte er nicht einmal gezappelt, um sich zu wehren. Ein Narr war er gewesen, ein blinder, gieriger alter Narr, und wenn er sich heute Nacht auf seiner Pritsche schlafen legte, würde er haben, was er verdiente. Nichts. Nichts außer Lady.
    »Hübsches Halsband, was dein Hund da hat«, sagte der Straßenhändler bewundernd und fingerte an seiner bunt gemusterten Halsbinde herum. »Ein richtiger Siegerhund, nicht wahr? Ist bestimmt ’nen Batzen Geld wert?«
    Tom antwortete nicht. Stattdessen setzte er Lady auf dem Boden ab. Er war wackelig auf den Beinen und fühlte sich unendlich müde und zittrig, als er sich aufrichtete. Der Straßenhändler versetzte seinem Hund einen weiteren, weniger energischen Fußtritt und ging zur Theke hinüber.
    »Sie hat das Zeug dazu, ja«, murmelte Tom, doch der Straßenhändler drehte sich nicht um. »Ein richtiger Siegerhund. Wenn sie die Chance dazu bekommen würde.«
    Als Lady die Schnauze in seine Hand schmiegte, zog er sie weg und wischte sie ausgiebig an seiner Jacke ab. Die Hündin sah ihn erst mit ihren rosa Augen groß an und schlich sich dann, fast auf dem Boden kriechend, davon. Am liebsten hätte er ihr einen Fußtritt verpasst und sie gleichzeitig in die Arme genommen. Seine Brust schmerzte.
    Die Eingangstür wurde aufgerissen. Herein stürzten mehrere Herren in dicken Wintermänteln und schweren Schals. Sie brachten einen Schwall eiskalter Luft und den holzig-modrigen Geruch nach Whisky mit.
    »Brandy!«, rief einer von ihnen und fuchtelte mit einem Stock mit Silberknauf in der Luft herum. »Her mit dem Brandy!«
    »Da müssen wir uns vertan haben«, protestierte ein anderer mit vom Alkohol schwerer Zunge. »Hier ist ja gar nichts los. Seht doch, da ist nur ein alter Mann.«
    »Da ist ja Tom«, erklang eine Stimme mit vertrautem schleppendem Tonfall, und der Captain lüftete mit schwungvoller Geste den Hut in Richtung Lady. »Guten Abend

Weitere Kostenlose Bücher