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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Charlotte auf, Platz zu nehmen.
    Sie dankte ihm und wartete, bis er sich gefasst hatte, bevor sie ihm ihre Fragen stellte. Ihr war bewusst, dass ihn eine einzige ungeschickte Bemerkung oder falsche Reaktion gegen sie aufbringen konnte und sie keine Gelegenheit für einen zweiten Versuch bekommen würde.
    »Die Sache liegt über zwanzig Jahre zurück«, sagte er und sah sie mit ernster Miene an. Er saß ihr gegenüber, der Hund lag ihm zu Füßen am Boden. Im Schein der Gaslampen konnte sie deutlich sehen, dass sich O’Neil bemühte, seine Gefühle zu beherrschen, die sicherlich durch die unvermittelte Begegnung mit Narraway wieder an die Oberfläche gespült worden waren. Seine Augen waren rot gerändert, sein Gesicht verhärmt. Die Haare standen ihm wirr um den Kopf, als sei er
mehrfach mit den Fingern hindurchgefahren. Es war unübersehbar, dass er getrunken hatte, aber der Gram, an dem er litt, war nicht von der Art, die sich leicht ertränken ließ.
    »Ich weiß, Mr O’Neil«, sagte sie leise. Es gab keinen Grund, in diesem stillen Haus die Stimme zu heben, im Gegenteil verlangte die Tragödie, um die es hier ging, eine gewisse Ehrfurcht. »Haben Sie den Eindruck, dass die Zeit Wunden heilt? Ich würde das gern denken, sehe aber keinen Hinweis darauf.« Sie stand im Begriff, für sich selbst eine völlig neue Situation zu erfinden, wobei ihr zugleich schmerzlich bewusst war, dass Pitts Schicksal, das sie da in ihrer Vorstellung heraufbeschwor, Wirklichkeit werden konnte, falls es Narraway nicht gelang, seine Position im Sicherheitsdienst zurückzuerobern, und der Mann, der ihm diese Schmach bereitet hatte, ihn endgültig verdrängte – wer auch immer das sein mochte.
    Sie setzte sich ein wenig bequemer hin und wartete auf seine Antwort.
    »Ob die Zeit Wunden heilt?«, fragte er nachdenklich. »Nein. Vielleicht lässt sie etwas darüber wachsen, was die Wunden verschließt, aber darunter bluten sie auf alle Zeiten weiter.« Er sah sie fragend an. »Was hat er Ihnen angetan?«
    Sie sprang in die Zukunft, auf die sich ihr Blick sorgenvoll richtete, und malte sich das Schlimmste aus.
    »Auch mein Mann war im Sicherheitsdienst tätig«, erklärte sie. »Mit Irland hatte er nie etwas zu tun, sondern ausschließlich mit dem Kampf gegen Anarchisten in England, Bombenwerfer, die harmlose Frauen und Kinder umbrachten, alte Leute, meistens Arme.«
    O’Neil zuckte zusammen, unterbrach sie aber nicht.
    »Narraway hat ihm einen gefährlichen Auftrag gegeben, und als die Sache bedenklich wurde und mein Mann weit von zu Hause entfernt war, hat er erkannt, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte, und die Schuld an diesem Fehler,
den er selbst begangen hatte, meinem Mann in die Schuhe geschoben. Natürlich hat man ihn daraufhin sofort entlassen. Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Da man auch ihn des Diebstahls bezichtigt hat, findet er nirgendwo eine neue Anstellung. Er hat außer seinem Beruf nichts gelernt, und wer erst einmal über die vierzig ist, dem fällt es schwer, etwas Neues zu lernen. Man würde ihn höchstens als Handlanger beschäftigen, wenn überhaupt. Aber er ist solche Arbeiten nicht gewohnt und körperlich dafür auch nicht robust genug.« Sie hörte, wie erstickt ihre Stimme klang, als müsse sie mit den Tränen kämpfen. Der wahre Grund dafür war ihre Angst, doch es klang wie Kummer, Sorge und vielleicht auch Empörung über eine ungerechte Behandlung.
    »Und inwiefern könnte Ihnen meine Geschichte helfen?«, fragte O’Neil.
    »Selbstverständlich streitet Narraway die Sache von A bis Z ab«, sagte sie. »Aber da er Sie ebenfalls verraten hat, bekommt die Sache ein anderes Gesicht. Sagen Sie mir bitte, was geschehen ist?«
    »Er ist vor zwanzig Jahren hier aufgetaucht«, begann er langsam, »und hat uns Mitgefühl vorgegaukelt. Damit ist es ihm gelungen, so manchen zu täuschen. Er hat es ausgenutzt, dass er wie ein Ire aussieht, unsere Kultur, unsere Träume und unsere Geschichte kennt. Doch nicht alle von uns haben sich davon hinters Licht führen lassen. Man wird als Ire geboren oder man ist keiner. Aber wir haben so getan, als spielten wir mit – mein Bruder Sean, seine Frau Kate und ich.« Er hielt inne. Seine Augen waren verhangen, als sehe er aus diesem stillen Zimmer im Jahre 1895 etwas, was in weiter Ferne lag. Für ihn war die Vergangenheit ebenso gegenwärtig wie die Gesichter der Toten und die unverheilten Wunden.
    Da sie nicht recht wusste, ob sie etwas

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