Der Verräter von Westminster
gefragt«, gab sie zurück. »Bitte … du hast keinen Grund, dich zu beunruhigen. Ein kleiner Umweg hierher schadet mir nicht.«
»Du hättest …«, setzte er an, sprach aber nicht weiter, vielleicht weil ihm bewusst geworden war, wie sehr er es mit seiner Besorgnis übertrieb. Er ließ sie los. »Entschuldige. Ich …«
Sie sah ihn an. Das war ein Fehler. Einen Moment lang war in seinen Augen unverhüllt zu sehen, was er empfand. Es wäre ihr lieber gewesen, nicht zu wissen, dass ihm so viel an ihr lag. Künftig würde es ihnen beiden unmöglich sein, sich weiterhin ahnungslos zu stellen; sie konnte nicht mehr so tun, als sei ihr nicht bewusst, dass er sie liebte.
Sie wandte sich ab und spürte, wie ihre Wangen brannten. Es gab keine Worte, mit denen sie die Wahrheit nicht bagatellisiert hätte.
Er stand reglos da.
Nach einer Weile sagte sie: »Ich war bei Cormac O’Neil.«
»Was?«
»Es war ganz harmlos. Ich wollte einfach aus seinem Munde hören, was damals genau geschehen ist, oder zumindest, was er glaubt, was damals geschehen ist.«
»Und was hat er gesagt?«, fragte Narraway rasch mit einer Stimme, in der unüberhörbar Anspannung lag.
Sie wollte ihn nicht ansehen, sich nicht in alten Kummer hineindrängen, der offensichtlich noch ganz frisch war. Doch es wäre feige gewesen, auszuweichen. Sie sah ihm in die Augen, teilte ihm mit, dass Talulla Kates Tochter war, und wiederholte, was Cormac sonst noch gesagt hatte.
»Wahrscheinlich sieht er das tatsächlich so«, sagte Narraway, nachdem sie geendet hatte. »Gut möglich, dass er es nicht fertigbringt, mit der Wahrheit zu leben. Kate war wirklich schön.« Als er das sagte, trat ein flüchtiges Lächeln auf seine Züge. In jenem Augenblick konnte sie sich vorstellen, wie er zwanzig Jahre zuvor gewesen war: jünger, männlicher, vielleicht weniger weise.
»Kaum ein Mann konnte ihr widerstehen«, fuhr er fort. »Ich habe es gar nicht erst versucht. Mir war bewusst, dass die Iren sie dazu benutzten, mich zu ködern. Sie war tapfer und leidenschaftlich …« Er lächelte. »Vielleicht eine Spur humorlos, aber bedeutend klüger, als den Leuten auf der anderen Seite bewusst war. Das ist bei schönen Frauen manchmal so. Die Leute sehen dann nur das Äußere, vor allem Männer. Der Mensch sieht, was er sehen möchte, das ist die unbequeme Wahrheit.«
Charlotte runzelte die Brauen, während sie an Kate dachte. Andere hatten sie als Spielfigur eingesetzt, wenngleich als eine, um die sie kämpften, die sie begehrten. »Wieso sagst du, dass sie klug war?«, fragte sie.
»Wir haben uns unterhalten – über die Sache der Iren, deren Pläne. Ich habe sie davon überzeugt, dass sich deren Vorhaben für die irische Seite als Bumerang erweisen würde. Das entsprach der Wahrheit – es hätte eine Unzahl von Toten gegeben, und sie wären auf grausame Weise umgekommen. Aufstände dieser Art drängen den Gegner nicht in die Defensive und bringen ihn auch nicht dazu, sich zu ergeben. Sie haben genau die gegenteilige Wirkung. Mit einem Erfolg hätten die Iren lediglich die verschiedenen Lager in England gegen die Aufständischen geeinigt und überdies sämtliche Sympathien in allen Ländern Europas eingebüßt, wenn nicht gar bei einigen ihrer eigenen Leute. Kate hat mir in Einzelheiten berichtet, was sie planten, damit ich der Sache Einhalt gebieten konnte.«
Charlotte versuchte sich die Situation vorzustellen, den Kummer, den Preis, den so viele Menschen dafür hatten zahlen müssen.
»Wer hat sie umgebracht?«, fragte sie. Sie empfand einen Verlust, als habe sie Kate persönlich gekannt und nicht nur als Namen und in ihrer Vorstellung.
»Sean«, gab er zurück. »Ich weiß nicht, ob er es getan hat, weil sie Irland verraten hat, wie er das sah, oder weil sie ihn betrogen hat.«
»Mit dir?«
Narraway wurde rot, wandte den Blick aber nicht ab. »Ja.«
»Weißt du genau, dass er es war? Gibt es daran keinerlei Zweifel?«
»Ich weiß es ganz genau«, sagte er mit halberstickter Stimme. »Ich habe ihre Leiche gefunden. Ich bin überzeugt, dass er das wollte.«
Sie konnte sich jetzt kein Mitleid mit ihm leisten. »Und wieso bist du so sicher, dass er der Täter war?« Sie musste Gewissheit haben, damit sie den Zweifel für immer ausräumen konnte. Falls Narraway selbst Kate getötet hatte, mochte das im Licht einer verdrehten politischen Logik gleichsam seine Pflicht gewesen sein und dazu gedient haben, größeres Blutvergießen zu verhindern. Während sie ihn
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