Der Verräter von Westminster
fragte er ungläubig.
»In unsere Pension in der Molesworth Street«, fuhr sie ihn an. »Hätten Sie die Güte, mich dort hinzubringen, damit ich keinen Pferdeomnibus nehmen muss? Ich weiß weder, wo ich bin, noch, wohin ich fahren müsste.«
»Das ist mir bekannt«, stimmte er mit trübseliger Miene zu.
Als sie vor Mrs Hogans Pension ausgestiegen war, wartete sie lediglich, bis seine Kutsche um die nächste Ecke verschwunden war, ging dann entschlossen in die Gegenrichtung und hielt die erste Droschke an, die sie sah. Von Narraway wusste sie, wo Cormac O’Neil wohnte, und so nannte sie dem Kutscher diese Adresse. Sofern O’Neil nicht inzwischen schon zu Hause war, würde sie so lange warten, bis er zurückkehrte.
Kurz nach Einbruch der Dämmerung sah sie ihn in etwa hundert Schritt Entfernung aus einer Droschke steigen. Mit unsicher wirkenden Schritten näherte er sich auf dem schmalen Weg, der von der Gartenpforte zu seinem Haus führte.
Sie trat aus dem Schatten. »Mr O’Neil?«
Er blieb stehen und sah sie an.
»Mr O’Neil«, wiederholte sie. »Dürfte ich wohl kurz mit Ihnen sprechen? Es ist sehr wichtig.«
»Ein anderes Mal«, sagte er mit kaum verständlicher Stimme. »Es ist schon spät.« Er machte Anstalten, an ihr vorüber zur Haustür zu gehen, doch sie vertrat ihm den Weg.
»Nein, es ist nicht spät. Es isYTt kaum Abendessenzeit, und die Sache ist wirklich dringend. Dürfte ich bitte?«
Er sah sie an. »Sie sehen tatsächlich gut aus«, sagte er freundlich, »aber ich bin nicht interessiert.«
Mit einem Mal begriff sie, dass er sie für eine Straßendirne hielt. Dieser Gedanke war so aberwitzig, dass sie sich nicht gekränkt
fühlen konnte. Doch wenn sie jetzt lachte, klang das womöglich hysterisch. So unterdrückte sie den Impuls und bemühte sich, ihre Nervenanspannung zu beherrschen, die ihr fast die Stimme nahm. »Mr O’Neil«, begann sie. Sie hatte sich gut überlegt, was sie sagen wollte. Sie sah keine andere Möglichkeit zu erreichen, dass er ihr vielleicht die Wahrheit sagte. »Ich möchte Sie etwas im Zusammenhang mit Mr Narraway fragen …«
O’Neil blieb ruckartig stehen, fuhr herum und sah sie scharf an.
»Mir ist bekannt, was er Mitgliedern Ihrer Familie angetan hat«, fuhr sie mit einem Anflug von Verzweiflung fort. »Jedenfalls glaube ich das zu wissen. Ich war heute Nachmittag bei dem Konzert und habe gehört, was Sie und Miss Lawless gesagt haben.«
»Was wollen Sie hier?«, fragte er. »Sie sind Engländerin, das höre ich an Ihrer Stimme. Versuchen Sie also gar nicht, mir Mitleid vorzugaukeln«, sagte er so scharf wie verachtungsvoll.
Sie hielt ebenso hart dagegen. »Und Sie meinen also, dass die Iren als einziges Volk auf der Welt Opfer sind?«, fragte sie. »Auch mein Mann hat gelitten. Vielleicht gäbe es mir eine Möglichkeit, etwas zu unternehmen, wenn ich die Wahrheit wüsste.«
»Was könnte das schon sein?«, fragte er in schneidendem Ton.
Ihr war klar, dass das, was sie ihm weismachen wollte, unbedingt glaubwürdig klingen musste. Das Unrecht, das sie schildern wollte, musste so schreiend sein, dass er in ihr ein ebensolches Opfer sah, wie er es war. Innerlich tat sie Narraway Abbitte. »Aus dem Sicherheitsdienst ist Narraway bereits entlassen«, sagte sie. »Und zwar wegen des für Mulhare bestimmten Geldes. Aber abgesehen von seiner Stellung als Leiter dieser Abteilung hat er alles, was man für ein angenehmes
Leben in London braucht: ein Haus und Freunde. Meiner Familie hingegen ist nichts geblieben, mit Ausnahme einiger weniger Freunde, die ihn so gut kennen wie ich und vielleicht auch Sie. Ich muss unbedingt die Wahrheit wissen …«
Er zögerte einen Augenblick, dann suchte er, als ob er sich ergeben in etwas schicke, in seiner Tasche nach dem Schlüssel, steckte ihn unsicher ins Schloss, öffnete und hielt ihr die Haustür auf.
Ein großer Hund – wohl ein irischer Wolfshund – begrüßte seinen Herrn schwanzwedelnd nach einem flüchtigen Blick auf Charlotte. Er drängte sich dicht an ihn und verlangte nach seiner Aufmerksamkeit.
Mit leisen Worten tätschelte O’Neil dem Tier den Kopf und ging dann ins Wohnzimmer, um Licht zu machen, wobei ihm der Hund auf dem Fuß folgte. Im Schein der Gasflammen sah Charlotte einen sauberen behaglichen Raum, dessen großes Fenster auf den Vorgarten und die Straße ging. O’Neil schloss die Vorhänge, wohl eher, damit niemand hereinsehen konnte, als um die Abendkühle draußen zu halten, und forderte
Weitere Kostenlose Bücher