Der Verräter von Westminster
sehr leid.« Es war ihr ernst damit. Sie versuchte sich die Frau vorzustellen, die Cormac beschrieben hatte, mit ihrer Leidenschaft, ihren Träumen, doch vergebens: Das Bild war die Erinnerung eines Mannes, der einen Schatten aus der Vergangenheit liebte. Kate hatte aufgehört zu atmen und zu lachen, sie konnte nicht mehr wachen und schlafen wie andere Menschen, nicht mehr verletzt werden und keine Fehler mehr begehen.
»Es hieß, Sean hätte sie umgebracht«, fuhr er fort. »Aber das kann nicht sein. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie unsere Sache nie im Leben verraten hätte. Auch das war wieder Narraways Werk. Er hat sie umgebracht, damit sie unseren Leuten nicht sagen konnte, was er getan hatte, denn dann hätte er Irland nie und nimmer lebend verlassen.« Er sah Charlotte verzweifelt an, Tränen quollen ihm aus den Augen. Offensichtlich wartete er auf ihre Reaktion.
Sie zwang sich zu sprechen. »Warum hätte er das tun sollen? Und haben Sie Beweise dafür?«, fragte sie. »Ich meine, können Sie mir irgendetwas in die Hand geben, was ich nach
London mitnehmen kann, um zu erreichen, dass man mir zuhört?« Ein Frösteln überlief sie aus Furcht vor dem, was O’Neil sagen mochte. Und wenn er tatsächlich Beweise hatte? Was würde sie dann tun? Ihr war klar, dass Narraway selbstverständlich Entschuldigungsgründe finden und sagen würde, er habe sie töten müssen, damit sie ihn nicht an die Iren verriet, womit der Aufstand möglicherweise gelungen wäre. Entsprach das womöglich sogar den Tatsachen? Trotzdem war es erschreckend widerlich. Es war und blieb Mord.
»Er hat sie umgebracht, weil sie nicht bereit war, ihm zu sagen, was er von ihr erfahren wollte. Aber glauben Sie, dass er noch am Leben wäre, wenn ich solche Beweise hätte?«, fragte Cormac scharf. »In dem Fall wäre der arme Sean nicht gehängt worden, und die arme Talulla wäre nicht als Waisenkind aufgewachsen.«
Entgeistert stieß Charlotte hervor: »Talulla?«
»Ja, sie ist Kates und Seans Tochter«, sagte er schlicht. »Wussten Sie das nicht? Nach dem Tod der beiden hat sich eine Kusine um sie gekümmert und sich bemüht, sie so gut es ging vor dem Hass zu bewahren, den man ihrer Mutter allgemein entgegenbrachte. Das arme Kind.«
Die entsetzliche Tragödie überwältigte Charlotte. Sie wollte etwas sagen, was dem Verlust angemessen war, doch alles, was ihr einfiel, war banal.
»Das tut mir leid«, sagte sie. »Ich …«
Er hob den Blick zu ihr. »Und Sie fahren jetzt also nach London, um das jemandem zu berichten?«
»Ja … das werde ich tun.«
»Dann seien Sie vorsichtig«, mahnte er sie. »Narraway lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Wenn es ihm für sein Überleben nötig erscheint, würde er auch Sie umbringen.«
»Ich werde vorsichtig sein«, versprach sie. »Ich denke, ich muss noch ein wenig mehr in Erfahrung bringen, aber ich
verspreche Ihnen, dass ich … vorsichtig sein werde.« Sie stand auf und fühlte sich unbehaglich. Es gab nichts zu sagen, womit man das Gespräch gleichsam hätte abschließen können, denn welche Worte hätten auszudrücken vermocht, was beide empfanden? So sagte sie ernst: »Danke, Mr O’Neil.«
Er begleitete sie zur Tür und hielt sie ihr auf, bot ihr aber nicht an, für sie nach einer Droschke Ausschau zu halten. Es war, als habe sie für ihn in dem Augenblick aufgehört, wirklich zu sein, da sie den Fuß auf den Weg zur Gartenpforte setzte.
»Wo warst du so lange?«, wollte Narraway wissen, als sie in Mrs Hogans Salon trat. Er hatte am Fenster gestanden, war unter Umständen sogar unruhig auf und ab gegangen. Er wirkte erschöpft und angespannt, wie von einer großen Furcht befallen. »Ist alles in Ordnung? Wer hat dich herbegleitet? Wo ist er jetzt?«
»Ja, mit mir ist alles in Ordnung«, gab sie zurück. »Niemand hat mich herbegleitet.«
»Du warst allein unterwegs?« Seine Stimme klang unsicher. »Allein in der Dunkelheit auf der Straße? Um Gottes willen, Charlotte, was ist mit dir los? Da hätte dir wer weiß was zustoßen können, und ich hätte womöglich nicht einmal etwas davon erfahren!« Er fasste nach ihrem Arm. Sie spürte die Kraft seiner Hand und fragte sich, ob ihm wohl bewusst war, wie fest er sie hielt.
»Mir ist aber nichts zugestoßen, Victor. Ich war nicht weit weg. Außerdem ist es noch gar nicht spät. Draußen sind viele Leute unterwegs«, versicherte sie ihm.
»Du hättest dich verlaufen können …«
»Dann hätte ich nach dem Weg
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