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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Dienstzimmer öffnete, hatte er das Empfinden, dass es nach wie vor das Büro Narraways war. Das lag nicht nur daran, dass er immer noch keine persönlichen Gegenstände dort hingeschafft hatte, weder Bilder noch Bücher, sondern ganz im Gegenteil dafür gesorgt hatte, dass Narraways Bilder wieder an den Wänden hingen, als warteten sie darauf, dass dieser in sein angestammtes Reich zurückkehrte. Sofern es dazu kam, würde sich Pitt aufrichtig freuen, und das keineswegs aus reiner Selbstlosigkeit. Liebend gern würde er ihm das Amt wieder überlassen, das er jetzt unwillig an seiner Stelle verwaltete. Es entsprach weder seinem Wesen noch seinen Fähigkeiten, wohingegen er genau wusste, dass Narraway es nicht nur ausfüllte, sondern es geradezu sein Leben war.

    Er erledigte die dringendsten Aufgaben zuerst und gab alles, was er nicht selbst zu bearbeiten brauchte, an untergeordnete Mitarbeiter weiter. Nachdem er erklärt hatte, er wolle nicht gestört werden, ging er gründlich alle Unterlagen Narraways über sämtliche Fälle durch, an denen Gower in den letzten acht Monaten mitgewirkt hatte. Er las alle Dokumente und gewann dabei einen gewissen Überblick über die verschiedenen in anderen europäischen Ländern beobachteten Bestrebungen, das Los der Arbeiterschaft zu verbessern. Außerdem las er den neuesten Bericht über die Situation in Paris.
    Die darin dargelegten Pläne zu gewalttätigen Ausschreitungen bedrückten ihn, doch zugleich empfand er tiefes Mitgefühl angesichts das Ausmaßes an gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, das darin erkennbar wurde. Es bekümmerte ihn, dass man die Menschen dort unterdrückte und ihnen die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen, so lange vorenthielt, bis der Vollzug des gesellschaftlichen Wandels eines Tages von einem unmäßig großen Hass begleitet sein würde.
    Je weiter er las, desto tragischer erschien es ihm, dass die von hohem Idealismus getragene Revolution des Jahres 1848 einfach niedergeschlagen worden war und diese so gut wie keinen Wandel bewirkt hatte.
    Gowers Berichte waren knapp gehalten, so, als habe er bewusst alle Begriffe daraus entfernt, die auf Gefühle schließen lassen konnten. Anfangs hatte Pitt angenommen, es handele sich dabei einfach um einen besonders klaren Stil, doch dann begann er sich zu fragen, ob nicht mehr dahintersteckte. Vielleicht hatte Gower verhindern wollen, dass man durchschaute, was er dachte, dass Narraway irgendwelche Verbindungen oder Auslassungen erkannte oder dass es nicht echt klang.
    Als Nächstes nahm Pitt Narraways eigene Unterlagen zur Hand. Die meisten hatte er früher schon einmal gelesen, und mit einigen der Fälle war er ohnehin vertraut, da innerhalb
der Abteilung darüber gesprochen worden war. Er wählte drei aus. Es ging darin um sozialistische Umtriebe auf dem europäischen Festland, die in irgendeinem Zusammenhang mit Großbritannien standen, wo es ebenfalls sozialistische Gruppierungen gab, wie beispielsweise die Fabier-Gesellschaft, die allerdings gemäßigte Ansichten vertrat. Er verglich sie mit den Fällen, an denen Gower mitgewirkt hatte, und versuchte in erster Linie festzustellen, ob Narraway möglicherweise Anmerkungen dazu gemacht hatte.
    Welche Tatsachen waren ihm persönlich bekannt? Gower hatte West getötet und Wrexham als Täter bezeichnet. War das eine aus dem Augenblick geborene Entscheidung gewesen, oder hatte er von vornherein die Absicht gehabt und Wrexham in seinen Plan eingeweiht und mit einbezogen? Pitt musste an die Verfolgung durch halb London denken und wie ihn Gower bis Southampton und schließlich nach Saint Malo gelockt hatte. Erneut wurde ihm klar, dass alles viel zu einfach gewesen war. Immer dann, wenn es so ausgesehen hatte, als sei ihnen Wrexham entkommen, war Gower, und nicht Pitt, erneut auf die Fährte gestoßen. Das legte die unausweichliche Schlussfolgerung nahe, dass Gower und Wrexham Hand in Hand gearbeitet hatten. Im Rückblick ergab das Ganze nur dann einen Sinn, wenn es ihre Absicht gewesen war, Pitt in Saint Malo festzuhalten – oder genauer gesagt, ihn von London fernzuhalten. Daraus ließ sich folgern, dass sie genau wussten, welch übles Spiel man in Bezug auf Narraway plante.
    Doch was steckte dahinter? Hatte es mit bevorstehenden sozialistischen Aufständen zu tun, oder war auch das nur vorgetäuscht ?
    Wer war Wrexham eigentlich? Er wurde in Gowers Berichten zweimal kurz als junger Mann aus achtbarer Familie erwähnt, der sein Studium der Neueren

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