Der Verräter von Westminster
achten, hielt er den Blick so aufmerksam auf Stoker gerichtet, als seien sie beide allein im Zimmer.
»Sir?«, sagte Stoker erstaunt, ebenfalls ohne zu Pitt hinzusehen.
»Sie haben mit ihm zusammengearbeitet«, fuhr Croxdale fort. »Halten Sie diese Annahme für wahrscheinlich? Und was können Sie uns aus Irland berichten?«
Mit zusammengepressten Lippen und bleichem Gesicht beugte sich Stoker ein wenig vor, so dass das Licht der Lampe auf ihn fiel. Sein Gesicht war grau. »Es tut mir leid, Sir, aber ich kann keinen Grund erkennen, das Beweismaterial anzuzweifeln. Es ist erstaunlich, wozu sich manche Leute von Geldgier treiben lassen und wie sie deren Blick auf die Dinge zu ändern vermag.«
»Ich verstehe«, sagte Croxdale aufseufzend. »Und wie sieht es gegenwärtig in Dublin aus?«
»Die Polizei hat Mr Narraway festgenommen. Man legt ihm zur Last, Cormac O’Neil ermordet zu haben«, gab Stoker zur Antwort.
»Ermordet?« Croxdale wirkte entsetzt.
Auch Pitt schwirrte der Kopf. Der Narraway, den er kannte, war kein Mörder. Und was war mit Charlotte? War sie jetzt ganz allein und voller Angst? Aber Stoker konnte er danach unmöglich fragen.
» Allem Anschein nach hat Narraway ziemlich öffentlich mit O’Neil gestritten und ihm offen vorgehalten, die treibende Kraft hinter der Verschiebung des Geldes gewesen zu sein, durch die es so aussieht, als habe er das für Mulhare bestimmte Geld unterschlagen. Offen gesagt kann das sogar stimmen, Sir.«
»Tatsächlich?«, fragte Croxdale mit einem Anflug von Hoffnung in der Stimme.
»Soweit ich sehe, wäre es durchaus möglich, Sir. Der einzige Haken an der Sache ist: Über wen hätte O’Neil an die Informationen
kommen können, die er brauchte, um das Geld auf Mr Narraways Konto überweisen zu lassen? Ich habe versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden, und denke, ich bekomme das auch noch heraus.«
»Und handelt es sich um jemanden in Lisson Grove?«, fragte Croxdale.
»Nein, Sir«, gab Stoker, ohne mit der Wimper zu zucken, zurück. »Das glaube ich nicht.«
Croxdale kniff die Augen zusammen. » Wer steckt dann dahinter? Wer wäre dazu imstande?«
Ohne das geringste Zögern kam Stokers Antwort. »Sieht ganz so aus, als ob das jemand in Mr Narraways Bank war, Sir. Ich denke, man darf sagen, dass er sich hier und da Feinde gemacht hat. Oder vielleicht war es ja auch einfach jemand, der bereit war, sich dafür bezahlen zu lassen. Es wäre zwar schön, wenn man annehmen dürfte, dass es so etwas nicht gibt, aber das wäre wohl ein bisschen naiv. Immerhin gibt es Menschen, die so viel Geld haben, dass sie so gut wie alles kaufen können.«
»Da können Sie Recht haben«, gab Croxdale zurück. »Vielleicht ist Narraway bereits dahintergekommen? Das würde manches erklären. Was haben Sie noch aus Irland zu berichten?«
Stoker teilte ihm mit, was er über Narraways Verbindungen in Erfahrung gebracht, mit wem er gesprochen und wie diese Leute reagiert hatten. Außerdem berichtete er Einzelheiten von dem Zusammenstoß Narraways mit O’Neil bei dem Nachmittagskonzert. Mit keiner Silbe erwähnte er Charlotte. Was er über Narraway sagte, klang zumindest zum Teil so unwahrscheinlich, dass man annehmen musste, dessen Charakter habe sich von Grund auf verändert.
Ungläubig und mit zunehmendem Ärger hörte sich Pitt an, was Stoker berichtete. Seiner festen Überzeugung nach war alles, was er vortrug, nichts als hinterhältiger Verrat.
»Danke, Stoker«, sagte Croxdale betrübt. »Ein tragisches Ende einer glänzenden Laufbahn. Übergeben Sie Mr Pitt Ihren Bericht über Irland.«
»Ja, Sir.«
Stoker ging, und Croxdale sagte, zu Pitt gewandt: »Ich denke, dass die Sache damit klarer geworden ist. Gower war der Verräter, was zu glauben mir ehrlich gesagt immer noch schwerfällt. Allerdings lässt es sich nach allem, was Sie mir gesagt haben, nicht mehr bestreiten. Möglicherweise ist der Katastrophe jetzt Einhalt geboten, doch dürfen wir unserer Sache noch nicht sicher sein. Gehen Sie der Angelegenheit so gründlich nach, wie Sie können, Pitt, und erstatten Sie mir Bericht. Halten Sie ein wachsames Auge auf die Vorgänge in Europa. Sollte es da etwas geben, was wir den Franzosen mitteilen müssen, werden wir das tun. Darüber hinaus hält uns eine ganze Menge anderer politischer Schwierigkeiten in Atem, aber ich bin sicher, dass Ihnen das bekannt ist.« Er stand auf und hielt ihm die Hand hin. »Seien Sie auf der Hut. Sie haben eine schwierige und
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