Der Verräter von Westminster
wenn Sie ihre Machenschaften vielleicht nicht durchschauen würden. Ich will Sie damit nicht kränken, Sir, aber Sie wissen noch nicht genug, um zu erkennen, worum es geht.«
Pitt zuckte zusammen, konnte aber nichts dagegen einwenden. Der Mann hatte nur allzu Recht, so sehr es Pitt schmerzte, sich das einzugestehen.
»Ich hatte den Eindruck, dass Mr Narraway in Dublin zu ermitteln versucht hat, wer dafür gesorgt hat, dass es aussah, als habe er das für Mulhare vorgesehene Geld an sich gebracht. Wahrscheinlich, um auf die Weise allmählich dahinterzukommen, wer hier in London die ganze Sache eingefädelt hat«, fuhr Stoker fort. »Ich weiß nicht, ob ihm das gelungen ist, auf jeden Fall hat man ihm mit dem Mord an O’Neil eine üble Falle gestellt. Das Ganze muss glänzend vorbereitet gewesen
sein: Die Leute haben es so eingerichtet, dass es zwischen ihm und O’Neil vor ein paar Dutzend Zeugen zu einem Streit gekommen ist, irgendjemand hat ihn dann allein in O’Neils Haus gelockt und dafür gesorgt, dass dieser unmittelbar vor Mr Narraways Eintreffen dort erschossen wurde.
Ihre Gattin war dicht hinter ihm, aber er hat vor der Polizei geschworen, dass sie mit der Sache nichts zu tun hatte, damit man sie in Ruhe ließ. Sie ist dann in ihre Pension zurückgekehrt. Mehr weiß ich nicht über sie. Man hat Mr Narraway festgenommen. Bestimmt wird man ihn unter Anklage stellen und hängen, wenn wir nichts unternehmen. Bis dahin bleibt uns aber sicher noch eine gute Woche Zeit.« Er sah Pitt fragend an.
Die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, lastete wie ein bleierner Mantel auf Pitts Schultern. An niemanden konnte er sich wenden, niemandes Meinung dazu einholen und gegen seine eigene abwägen. Wer immer es so eingerichtet hatte, dass er, und nicht Narraway, diese Entscheidung zu treffen hatte, musste ungeheuer gerissen sein.
Er entschloss sich, Stoker zu trauen. Der Vorteil, den das versprach, war größer als das Risiko, das er damit einging.
»Das heißt, uns stehen vielleicht zehn Tage zur Verfügung, um Narraway zu retten«, gab er zurück. » Vermutlich ist das den Leuten, die hinter der ganzen Sache stehen, ebenso bewusst wie uns. Also dürfen wir annehmen, dass sie bis dahin das Vorhaben beendet haben, um dessentwillen sie ihn aus dem Weg haben wollten.«
Stoker richtete sich ein wenig auf. »Ja, Sir.«
»Und wir haben keine Vorstellung davon, wer diese Leute sind«, fuhr Pitt fort. »Außer dass sie hier in der Abteilung ein hohes Maß an Macht und Einfluss haben, so dass wir niemandem trauen können. Selbst Sir Gerald scheint diesen Menschen mehr zu trauen als Ihnen oder mir.«
Stoker gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Damit haben Sie Recht, Sir. Und das könnte das Ende von allem bedeuten, wahrscheinlich auch von Ihnen und mir und ganz bestimmt von Mr Narraway.«
»Das heißt, Sie und ich sind auf uns allein gestellt, um festzustellen, was hier gespielt wird.« Pitt war zu dem Ergebnis gekommen, dass es ums Ganze ging und er, wenn er Stoker schon trauen wollte, es rückhaltlos tun müsste. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, dem Mann den Eindruck zu vermitteln, als verlasse er sich nur zum Teil auf ihn.
Er holte die Papiere hervor, an denen er gearbeitet hatte, und legte sie so auf den Tisch, dass beide sie einsehen konnten.
»Dieses Muster habe ich bisher erkannt.« Er wies auf Linien, die Fälle von Waffenschmuggel und die Bewegungen von sowohl in Großbritannien als auch auf dem europäischen Kontinent allgemein bekannten Radikalen miteinander verbanden.
»Das ist ehrlich gesagt nichts Besonderes«, sagte Stoker mit finsterer Miene. »Es sieht für mich so aus wie immer.« Er wies auf einzelne Stellen des Planes: »Das da ist Rosa Luxemburg im Osten, aber die ist schon seit Jahren so aktiv. Dann haben wir Jean Jaurès in Frankreich. Der bedeutet aber keine Gefahr, denn er ist nicht auf Revolution aus, sondern auf Gesellschaftsreformen. Er führt zwar ab und zu eine recht scharfe Sprache, ist aber bei Licht besehen ziemlich gemäßigt. Jedenfalls hat das nichts mit uns zu tun. Der Mann ist so französisch wie Froschschenkel.«
»Und hier?« Pitt wies auf eine Linie, die Aktivitäten der Fabier-Gesellschaft in London und Birmingham bezeichnete.
»Die werden ihre Vorhaben letzten Endes durch das Unterhaus bringen«, sagte Stoker. »Keir Hardie wird ein bisschen Lärm schlagen, aber auch darum brauchen wir uns nicht zu
kümmern. Ich persönlich wünsche ihm allen Erfolg, denn
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