Der Verräter von Westminster
Gesicht erkannte er tiefes Mitgefühl und freundschaftliches Verständnis.
Er zwang sich, ihr zuzulächeln. Er dachte nicht im Traum daran, in Selbstmitleid zu versinken, allein schon deshalb nicht, weil sie das in einer vergleichbaren Situation auch nicht getan hätte.
»Ich versuche zu überlegen, mit welcher Aufgabe ich mich beschäftigt hätte, wenn ich nicht nach Saint Malo gefahren wäre«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob mir der arme West tatsächlich etwas Wichtiges mitteilen wollte, beispielsweise, dass Gower ein Verräter war, oder ob man ihn lediglich umgebracht hat, um zu erreichen, dass ich Wrexham bis nach Frankreich verfolgte. Ich nehme Ersteres an, aber vielleicht irre ich mich da auch.«
»Wenn du hier gewesen wärest, hättest du möglicherweise verhindert, dass man Victor von seinem Amt suspendiert«, erklärte sie. »Andererseits ist denkbar, dass man mit dir ebenso verfahren wäre …« Sie verstummte.
Er zuckte die Achseln. »Wenn man mich nicht ganz aus dem Weg geräumt hätte.« Er sagte das, weil ihm klar war, dass sie das ebenfalls dachte. »Mich nach Frankreich zu locken war da eine deutlich bessere Lösung, die den zusätzlichen Vorteil hatte, kein Aufsehen zu erregen. Außerdem darf man nicht ausschließen, dass mich die Leute von Anfang an als denjenigen vorgesehen hatten, dem die Verantwortung für das Versagen der Abteilung in die Schuhe geschoben werden sollte. Ich
habe schon die ganze Zeit hin und her überlegt, mit welchen Fällen wir uns überwiegend beschäftigt haben und was wir dabei in Erfahrung gebracht hätten, wenn die Zeit dafür gereicht hätte.«
»Darüber werden wir uns unterwegs Gedanken machen«, sagte sie und trank ihren Tee aus. »Sicherlich wird Minnie Maude gleich mit deinem Koffer herunterkommen, dann können wir aufbrechen.«
Er stand auf und ging nach oben, um noch einmal nach den Kindern zu sehen, erteilte Minnie Maude letzte Anweisungen und gab ihr genug Geld, damit sie während seiner Abwesenheit die nötigen Besorgungen machen konnte. Dann nahm er seinen Koffer und ging hinaus zu Lady Vespasias Kutsche, die vor dem Haus wartete. Wenige Augenblicke darauf waren sie in der Nacht verschwunden.
»Ich bin bereits gemeinsam mit Stoker gründlich alles durchgegangen, was vor meinem Aufbruch nach Frankreich geschehen ist, außerdem Austwicks Aufzeichnungen über die Vorfälle seither«, begann er, »sowie die Berichte anderer. Dabei ist uns etwas aufgefallen, was mich sehr beunruhigt, obwohl ich es noch nicht verstehe.«
»Was?«, fragte sie rasch.
Er berichtete ihr von dem Gewalttäter, der in verschiedenen Teilen des Landes gesehen worden war. Sie erbleichte, als er die seit Jahren miteinander verfeindeten Männer erwähnte, die mit einem Mal am selben Strang zu ziehen schienen.
»Ganz offensichtlich ist diese Sache überaus ernsthaft«, stimmte sie zu. »Ich habe übrigens auch verschiedene Gerüchte gehört, während du außer Landes warst. Anfangs habe ich das als leeres Gerede abgetan, wie man es immer wieder von idealistischen Träumern hört. Beispielsweise hieß es, gewisse Gesellschaftsreformer hätten erklärt, sie würden bestimmte Vorhaben
mühelos durch das Unterhaus bringen. Manche der Reformen, um die es dabei ging, kamen mir ziemlich radikal vor, wenn ich auch einräumen muss, dass sie in gewissem Rahmen gerechtfertigt erscheinen. Damals habe ich diese Leute einfach für weltfremd gehalten, aber vielleicht steckt etwas Konkretes dahinter, was mir bisher entgangen ist.«
Schweigend fuhren sie über Woburn Place in Richtung Euston Road, dann bog die Kutsche mit dem Verkehr nach rechts ab und fuhr nordwärts über die Pentonville Road.
»Ich fürchte, ich weiß, was dir entgangen ist«, sagte Pitt schließlich.
»Was denn?«, fragte sie. »Ich kann mir weder einen einzelnen Menschen noch eine Gruppe vorstellen, die bereit wäre, das eine oder andere der geplanten Gesetzesvorhaben durchzubringen. Ein solcher Versuch wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn im Oberhaus würde man das Ganze unverzüglich in Bausch und Bogen ablehnen, und die Leute müssten wieder von vorn anfangen. Bis dahin hätte sich die Opposition gesammelt und würde ihre Gegenargumente vortragen. Das muss den Leuten auch bekannt sein.«
»Mit Sicherheit«, gab er ihr Recht. »Aber wenn es kein Oberhaus gäbe …«
Das Licht der Straßenlaternen wirkte grell, das Rollen der Wagenräder unnatürlich laut. »Du meinst, wieder eine Pulververschwörung wie die
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