Der Verräter von Westminster
Rechenschaft verpflichtet gefühlt hatte. »Wir sind nicht weit von dir entfernt, aber es schien mir ratsam, erst mit dir zu sprechen, bevor wir den letzten Abschnitt der Reise zurücklegen.«
»Lasst das lieber sein«, gab sie zurück. »Es wäre weit besser, wenn ihr einen bestimmten Ort aufsuchtet, den wir nicht nennen wollen. Dort können wir uns treffen. Seit deiner Abreise ist viel geschehen, und es steht noch sehr viel mehr bevor.
Ich weiß nicht, worum es sich dabei handelt, wohl aber, dass es äußerst schwerwiegend ist und möglicherweise mit tragischer Gewalttat verbunden sein wird. Aber vermutlich hast du das bereits selbst herausbekommen. Ich nehme an, dass die ganze Irland-Geschichte keinem anderen Zweck dienen sollte, als dich von London wegzulocken.«
»Wer leitet jetzt die Abteilung?«, erkundigte er sich. Obwohl er in einer sehr behaglichen Halle eines Hotels in der Nähe des Bahnhofs stand und immer wieder nach links und rechts blickte, um sich zu vergewissern, dass niemand mithören konnte, kroch ihm die Kälte in die Glieder. »Charles Austwick?«
»Nein«, antwortete sie. »Das war nur eine Zwischenlösung. Thomas ist aus Frankreich zurück. Seine Reise dorthin war völlig ergebnislos. Man hat Austwick durch ihn ersetzt. Er arbeitet jetzt in deinem Büro und ist todunglücklich.«
Einen Augenblick lang war Narraway so verblüfft, dass er keine Worte fand, jedenfalls keine, die sich für Lady Vespasias Ohren oder die Charlottes, wenn sie in der Nähe gewesen wäre, geeignet hätten.
»Victor?«, kam Vespasias Stimme.
»Ja … ich bin noch dran. Was … was wird da gespielt?«
»Das weiß ich nicht«, gab sie zu. »Aber ich fürchte sehr, dass man ihn mit dieser Aufgabe betraut hat, weil er der Ungeheuerlichkeit, die da offenbar geplant wird, auf keinen Fall gewachsen wäre. Er hat mit dieser Art von Führungsposition nicht die geringste Erfahrung, besitzt weder die Hinterhältigkeit noch die scharfe Urteilskraft, die nötig wären, um unumgängliche harte Entscheidungen zu treffen. Außerdem gibt es dort niemanden, dem er vertrauen könnte. Das zumindest ist ihm bewusst. Ich habe Grund zu befürchten, dass er dort entsetzlich allein ist. Das dürfte der Absicht desjenigen entsprechen, der diese Situation geschaffen hat …«
»Du willst damit sagen, dass man ihn als Verantwortlichen ausersehen hat, dem man die Schuld aufbürden kann, wenn der Sturm losbricht?«, sagte Narraway voll Bitterkeit.
»Ganz genau.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Wir müssen dem unbedingt einen Riegel vorschieben, nur weiß ich nicht so recht, auf welche Weise. Mir ist nicht einmal bekannt, was die Leute planen, aber es muss etwas Unvorstellbares sein.«
Lady Vespasia war ein ganzes Stück älter als er und unbestreitbar tapfer. Niemand, den er kannte, hatte mehr Mut bewiesen als sie. Sie war klug und nach wie vor schön, doch allmählich wurde auch sie alt und war bisweilen sehr allein. Mit einem Mal begriff er ihre Verletzlichkeit, die darauf zurückging, dass sie neben zahlreichen Freunden auch jene Menschen verloren hatte, die sie einst leidenschaftlich geliebt hatte. Mit einem Mal sah er in ihr nicht mehr die Dame der Gesellschaft, die kraft ihrer Persönlichkeit in ihren Kreisen den Ton angab, sondern eine Frau, der die Einsamkeit ebenso wenig erspart geblieben war wie ihm.
»Erinnerst du dich noch an den Gasthof, wo wir vor etwa acht Jahren gemeinsam mit Somerset Carlisle einen köstlichen Hummer zu Mittag gegessen haben?«, fragte er.
»Ja«, kam ihre Antwort ohne das geringste Zögern.
»Dort sollten wir uns so bald wie möglich treffen«, sagte er. »Bring bitte Pitt mit …«
»Ich werde spätestens um Mitternacht da sein.«
»Du willst mit ihm mitten in der Nacht herkommen?«, fragte er verblüfft.
» Was sonst!«, sagte sie scharf. »Willst du etwa bis zum Frühstück warten? Sei nicht albern. Reserviere lieber drei Zimmer für den Fall, dass uns noch Zeit zum Schlafen bleibt.«
Die letzten Worte hatte sie in zögerndem Ton gesagt.
» Vespasia?«
Sie stieß einen leichten Seufzer aus. »Ich möchte dich nicht kränken, aber da ich vermute, dass du von … nun ja, von dort, wo du warst, geflohen bist, wirst du wohl nicht viel Geld haben und möglicherweise auch nicht in der gewohnt eleganten Garderobe auftreten. Daher dürfte es sich empfehlen, den Leuten meinen Namen zu nennen, so, als wenn du die Reservierung für mich vornähmest. Sag ihnen auch, dass ich gleich bei der Ankunft
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