Der Verräter von Westminster
Hausherrn mit allem, was er für eine Übernachtung außer Haus braucht. Frische Wäsche, ein Hemd und Toilettenartikel. Wenn Sie fertig sind, bringen Sie ihn nach unten und stellen ihn in die Diele.«
Minnie Maudes Augen weiteten sich. Sie zwinkerte, als überlege sie, ob sie es wagen sollte, Pitt um eine Bestätigung zu bitten, oder einfach tun sollte, was die Dame gesagt hatte. Wer hatte in diesem Fall zu bestimmen?
Das arme Mädchen musste sich in so kurzer Zeit an so viel Neues gewöhnen. Er lächelte ihr beruhigend zu. »Tun Sie das bitte, Minnie Maude. Ich werde fort müssen, aber bald wiederkommen. «
»Es ist gut möglich, dass du eine ganze Zeit lang außerordentlich viel zu tun haben wirst«, berichtigte ihn Lady Vespasia. »Nur gut, dass du mit Minnie Maude eine so verantwortungsbewusste junge Frau im Hause hast. Du wirst sie brauchen. Jetzt wollen wir Tee trinken und dann aufbrechen.«
Sobald Minnie Maude den Tee eingegossen und den Raum verlassen hatte, wandte sich Pitt mit fragendem Blick an die Besucherin.
» Wir dürfen uns nicht länger der Erkenntnis verschließen, dass man sowohl dich als auch Victor aus einem ganz bestimmten Grund aus London fortgelockt hat«, sagte sie, nachdem sie einen ersten kleinen Schluck genommen hatte. »Victor hat man aus dem Amt gedrängt und den Versuch unternommen zu erreichen, dass er in Irland zumindest zeitweise im Gefängnis verschwindet, wenn man ihn nicht gar gehängt hätte. Dich hatte man schon vorher aus London fortgelockt, damit du, der Einzige in Lisson Grove, auf den er sich voll und ganz verlassen konnte und der den Mut aufgebracht hätte, für ihn einzutreten, nicht da warst, als man das Schurkenstück an ihm verübte. Auf diese Weise fehlte ihm jede Unterstützung. «
Seinen Vorgesetzten Narraway hätte Pitt in einer vergleichbaren Situation unterbrochen, um nach dem Grund für das alles zu fragen, doch Lady Vespasia wagte er nicht ins Wort zu fallen.
»Allem Anschein nach ist Charles Austwick mit in die Sache verwickelt«, fuhr sie fort, »wir wissen aber noch nicht, in welchem Umfang und aus welchem Grund. Wohl aber ist uns bekannt, dass es hier um ein groß angelegtes gefährliches Unternehmen
geht, das möglicherweise mit Gewalttaten verbunden ist.«
»Ich weiß«, sagte er leise. »Ich denke, dass ich in Stoker einen Verbündeten habe, auf den ich mich verlassen kann. Allerdings dürfte er der Einzige sein, so weit ich das im Moment überblicken kann. Möglicherweise gibt es noch andere, aber ich habe keine Vorstellung, wer das sein könnte. Auf keinen Fall darf ich mir in dieser Hinsicht Fehler leisten, denn schon ein einziger würde sich vermutlich verhängnisvoll auswirken. Was ich nicht verstehe, ist, dass sich Austwick so gut wie gar nicht gegen seine Ablösung als Leiter der Abteilung aufgelehnt hat. Das gibt mir zu denken, denn es steht zu befürchten, dass eine ganze Reihe von Leuten jeden meiner Schritte kennt und ihm davon berichtet.«
Sie stellte ihre Tasse hin. »Das Ganze dürfte noch viel schändlicher sein, als du annimmst, mein Lieber«, sagte sie. »Meiner Vermutung nach wird das geplante Vorhaben äußerst weitreichende Folgen haben. Im Hinblick darauf hat man dich in Lisson Grove als Leiter eingesetzt – du bist als Sündenbock ausersehen, dem man die Schuld dafür aufbürden wird, dass der Sicherheitsdienst die Sache nicht verhindert hat. Danach kann man die Abteilung von Grund auf neu einrichten, ohne auf die erfahrenen Kräfte zurückzugreifen, die jetzt da sind. Auf diese Weise hätten die Hintermänner dieses Planes den Sicherheitsdienst vollständig in der Hand – wenn sie ihn nicht sogar mit der Begründung ganz auflösen, er habe zwar in der Vergangenheit seine Aufgabe erfüllt, sei aber jetzt offensichtlich nicht mehr nötig.«
Was Lady Vespasia ihm vortrug, war niederschmetternd. Nicht wegen seiner Verdienste hatte man ihn also befördert, sondern weil man ihn opfern wollte, wenn der Zeitpunkt gekommen war, dem Sicherheitsdienst vorzuwerfen, dass er versagt und die bevorstehende Katastrophe nicht verhindert hatte.
Diese Vorstellung hätte ihn mit maßlosem Zorn erfüllen müssen, und dazu würde es zweifellos auch noch kommen, wenn er erst einmal das vollständige Ausmaß der Situation erfasst und Zeit gehabt hatte, auch an sich selbst zu denken. Jetzt aber galt es festzustellen, was für eine Art von Anschlag geplant war und wer dahintersteckte. Doch wie sollten sie dabei vorgehen?
Auf Lady Vespasias
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