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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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erschossen. Die genauen Hintergründe dieser Geschichte sind nie bekannt geworden.« Er beugte sich ein wenig vor und setzte seine Erläuterungen mit ernstem Gesicht fort: »Auch die übrigen Throne Europas stehen nicht so fest wie früher, und in Russland steht die Monarchie dicht vor dem Abgrund. Dort dürfte bald das Chaos ausbrechen, wenn man sich nicht umgehend zu tiefgreifenden Reformen bereit findet. Allerdings sind die ungefähr ebenso wahrscheinlich wie eine Narzissenblüte im November.«
    »Bei uns sehen die Dinge aber doch anders aus«, hielt Pitt dagegen. »Zwar hatte Königin Viktoria vor einigen Jahren eine schwierige Zeit, aber ihre Beliebtheit nimmt wieder zu.«
    »Sollten die Leute einen Anschlag auf unsere Erbmonarchie vorhaben, hätte das übrige Europa keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen«, gab Narraway zu bedenken. »Überlegen Sie doch, Pitt. Wo würden Sie ansetzen, wenn Sie ein begeisterter Sozialist wären und die Absicht hätten, die Privilegien einer Schicht hinwegzufegen, die über alle anderen gebietet? In Frankreich hat der Adel alle Herrschaftsrechte eingebüßt, und in Spanien hat er jeglichen Einfluss verloren. Zu der Zeit, als dort die Habsburger regierten, war der Hof mit den Herrscherhäusern in halb Europa verwandt, aber davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Österreich-Ungarn? Das zerbröselt allmählich. Deutschland? Da hat bis vor wenigen Jahren Bismarck alle Macht in Händen gehalten, und wie es unter Kaiser Wilhelm II. weitergeht, wird die Zukunft zeigen. Alle bedeutenden Herrscherhäuser in Europa sind auf die eine oder andere Weise mit Königin Viktoria verwandt. Wenn sie
ihr Oberhaus verlöre, wäre das der Anfang vom Ende aller erblichen Privilegien.«
    »Ehre und Moral lassen sich nicht vererben, Victor«, sagte Lady Vespasia leise. »Wohl aber kann man von der Wiege auf ein Verständnis für die Vergangenheit erlernen und Dankbarkeit für die damit verbundenen Gaben. Man kann lernen, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen, zu hüten und vielleicht zu mehren, was man bekommen hat, und es denen zu hinterlassen, die uns nachfolgen.«
    Sein Gesicht wirkte erschöpft, als er sie ansah. »Mit dem eben Gesagten habe ich die Worte jener Leute wiederholt, Vespasia, es waren nicht meine eigenen.« Er biss sich auf die Lippe. »Wer sie besiegen will, muss wissen, woran sie glauben und was sie planen. Sofern es ihnen gelingt, an die Macht zu kommen, werden sie nicht nur das Schlechte beseitigen, sondern auch das Gute hinwegfegen, weil ihnen nicht klar ist, was es bedeutet, ausschließlich seinem Gewissen und nicht der Stimme des Volkes verantwortlich zu sein, das sich bei allem zu Wort meldet, ganz gleich, ob es etwas von der Sache versteht oder nicht.«
    »Entschuldigung«, sagte sie. »Vielleicht bin ich ein wenig verängstigt. Hysterisches Verhalten ist mir in tiefster Seele zuwider. «
    »Verständlich«, versicherte er ihr. »Sollte einst der Tag kommen, an dem niemand mehr so empfindet, sind wir alle verloren. « Er wandte sich an Pitt. »Haben Sie eine Vorstellung von irgendwelchen spezifischen Plänen?«
    »Nur sehr ungenaue«, räumte dieser ein. »Aber ich kenne den Feind.«
    Er teilte Narraway mit, was er Lady Vespasia bereits über die verschiedenen Gewalttäter gesagt hatte, die einander hassten, jetzt aber etwas gefunden zu haben schienen, was sie einte.

    »Wo befindet sich Ihre Majestät zur Zeit?«, erkundigte sich Narraway.
    »In ihrem Palast Osborne House auf der Isle of Wight«, gab Pitt zur Antwort. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Unwillkürlich kamen ihm Anmerkungen und Beobachtungen in den Sinn, die andere gemacht hatten: betont unauffällig scheinende Ortsveränderungen von Männern, deren Namen jeden hätte alarmieren müssen, der diese Berichte las. Narraway wäre das sofort aufgefallen. »Ich vermute, dass sie dort zuschlagen wollen. Es ist die verwundbarste Stelle, an der ein Angriff zugleich den größten Erfolg verspricht.«
    Narraway wirkte noch bleicher als zuvor. »Die Königin?« Er war so entsetzt, dass er nichts weiter sagte. Der bloße Gedanke an einen Angriff auf die Person Königin Viktorias war so erschütternd, dass es ihm die Sprache verschlug.
    Pitt überlegte, wie viele Soldaten auf der Insel stationiert waren, kalkulierte, was der Sicherheitsdienst an Männern aufbieten konnte, wenn er sie von anderen Aufgaben abzog. Außerdem ließen sich Polizeikräfte mobilisieren. Dann kam ihm ein anderer Gedanke.

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