Der Verräter von Westminster
Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb Narraway mehrere Minuten reglos sitzen. Der Mord an West bedeutete einen schweren Schlag, denn jetzt würden sie nichts von dem erfahren, was ihnen der Mann hatte mitteilen
wollen. In jüngster Zeit hatte es wieder einmal Hinweise auf bevorstehende Aktionen von Radikalen gegeben. Notorische Unruhestifter kamen und gingen öfter als sonst, und eine gewisse Unruhe lag in der Luft. Zwar waren all diese Anzeichen Narraway bestens vertraut, doch er kannte den Zweck nicht, auf den sich diese Aktivitäten richteten. Es gab so viele Möglichkeiten: ein Anschlag konnte einem Minister oder einem Großindustriellen gelten, aber auch, und das wäre besonders unangenehm, einem ausländischen Würdenträger oder Potentaten auf englischem Boden. Ebenso war es möglich, dass man beabsichtigte, irgendein wichtiges Wahrzeichen zu sprengen. Er hatte Pitt den Auftrag gegeben, zu ermitteln, was jene Radikalen im Schilde führten. Vielleicht gelang ihm das ja auch noch, aber ohne West würde sich das deutlich schwieriger gestalten.
Selbstverständlich war das nicht alles. Gerüchte und Drohungen gab es immer. Ständig lagen Argwohn und Verrat in der Luft. Der Sicherheitsdienst hatte die Aufgabe, solchen Anzeichen nachzugehen, bevor etwas geschah, um zumindest das größte Übel zu verhüten.
Sollte Pitt aber dem Mörder Wests bis nach Schottland oder, schlimmer noch, über den Ärmelkanal gefolgt sein, ohne dass er Narraway das mitteilen konnte, dürfte er auch keine Zeit gehabt haben, seine Frau von seiner Lage in Kenntnis zu setzen. Das bedeutete, dass Charlotte im Haus in der Keppel Street auf ihn wartete und sich mit jeder Stunde mehr ängstigte.
Narraway sah auf die kunstvoll gearbeiteten Zeiger der Standuhr an einer der Wände seines Büros. Es war Viertel vor sieben. Zwar wäre Pitt an einem gewöhnlichen Tag jetzt bereits zu Hause, doch würde seine Frau wohl erst in einer oder zwei Stunden anfangen, sich Sorgen zu machen.
Er stellte sich vor, wie sie in der Küche das Abendessen zubereitete, wahrscheinlich allein. Die Kinder saßen vermutlich
an den Hausaufgaben für den nächsten Tag. Er konnte sich Charlotte mühelos vorstellen – genau gesagt stand ihm ihr Bild ständig vor Augen.
Manch einer hätte sie nicht als schön bezeichnet, weil ihr Gesicht nicht dem landläufigen Ideal entsprach, weder niedlich war noch in irgendeiner Weise Beschützerinstinkte weckte. Solche Gesichter langweilten Narraway. Schönheit war seiner Ansicht nach eine sehr persönliche Sache, hatte mit Geschmack zu tun, mit der Fähigkeit, über das Augenfällige hinaus Elemente von Leidenschaften oder Träumen zu erkennen, in denen sich das Wesen eines Menschen zeigte.
Bei Charlotte hatte er eine Herzenswärme und ein Lachen kennengelernt, die er nie vergessen würde. Das war ihm nur allzu deutlich bewusst, denn er hatte es versucht. Mitunter fuhr sie vor Zorn auf, weil sie viel zu impulsiv reagierte, und seiner Ansicht nach schätzte sie Situationen häufig unzutreffend ein, doch an ihrem Mut und ihrer Willenskraft konnte es nicht den geringsten Zweifel geben.
Jemand musste ihr mitteilen, dass sich ihr Mann auf die Fährte von Wests Mörder gesetzt hatte – ach, es wäre wohl besser, den Mord nicht zu erwähnen. Er würde ihr sagen, dass er sich einem Mann an die Fersen geheftet hatte, der wichtige Informationen liefern konnte, und möglicherweise genötigt gewesen war, ihm über den Ärmelkanal zu folgen. Dabei habe er keine Gelegenheit gehabt, sie anzurufen oder auf andere Weise davon in Kenntnis zu setzen. Natürlich hätte Narraway Stoker zu ihr schicken können, aber sie kannte den Mann nicht und außer ihm selbst auch sonst niemanden im Hauptquartier von Lisson Grove. Es war ein Gebot der Höflichkeit, ihr diese Mitteilung selbst zu überbringen, zumal es für ihn kein großer Umweg war. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, bedeutete es doch einen ziemlichen Umweg, aber trotzdem dürfte es so das Beste sein.
Obwohl Pitt anfänglich nicht die geringste Vorstellung von der Arbeitsweise des Sicherheitsdienstes gehabt hatte und Narraway ihn in politischen Fragen gelegentlich für ein schlichtes Gemüt hielt, war er einer der besten Männer, die je für ihn gearbeitet hatten. Seine Rechtschaffenheit, die in Narraways Augen geradezu sein Kennzeichen war, brachte Narraway bisweilen zur Verzweiflung. Pitt war zusammen mit dem Sohn des Gutsbesitzers aufgewachsen und unterrichtet worden, für den
Weitere Kostenlose Bücher