Der Verräter von Westminster
müssen sie schon sehr viel klüger vorgehen.«
Gower schluckte. »Was dann?«, fragte er leise.
»Etwas, was die Macht endgültig zerschlägt. Ein Wandel, der so tiefgreifend ist, dass er sich nicht rückgängig machen lässt.« Schon während er die Worte sagte, ängstigte ihn diese Vorstellung. Etwas Gewalttätiges und Fremdartiges stand bevor. Möglicherweise waren er und sein Untergebener die Einzigen, die das verhindern konnten.
Jetzt stieß auch Gower die Luft so aus, dass es wie ein Seufzen klang. Sein Gesicht war bleich. Pitt warf ihm einen Seitenblick zu, während er nach wie vor so tat, als genieße er die Sonne und beobachte die Segelboote im Hafen. Er und Gower würden sich ganz und gar aufeinander verlassen müssen. Die vor ihnen liegende Aufgabe war anstrengend und erforderte einen langen Atem. Auf keinen Fall durften sie sich auch nur den kleinsten Hinweis entgehen lassen, denn jede noch so unbedeutend scheinende Spur konnte wichtig sein. Sie würden nachts frieren, oft nichts zu essen bekommen, ständig müde sein und zahlreiche Unannehmlichkeiten auf sich nehmen müssen. Vor allem aber mussten sie dafür sorgen, dass sie niemandem auffielen. Nur gut, dass Gower Humor hatte und nicht dazu neigte, die Dinge schwerzunehmen. Es gab im Sicherheitsdienst eine ganze Reihe von Männern,
mit denen Pitt diese Aufgabe weit weniger gern ausgeführt hätte.
»Jetzt kommt Linsky heraus!« Gower spannte sich an und zwang sich dann förmlich, erneut eine entspannte Haltung einzunehmen, als interessiere ihn dieser Mann mit der Adlernase, der fliehenden Stirn und den strähnigen Haaren nicht mehr als der Bäcker, der Briefträger oder irgendein beliebiger Feriengast auf der Straße.
Pitt richtete sich auf, steckte lässig die Hände in die Taschen und machte sich daran, die Treppe hinabzugehen, um dem Mann zu folgen.
KAPITEL 2
Am frühen Abend des Tages, an dem sich Pitt und Gower an die Verfolgung Wrexhams gemacht hatten, die sie über Southampton bis nach Saint Malo führte, saß Victor Narraway in seinem Büro in Lisson Grove. Es klopfte, und auf sein »Herein« trat einer seiner Mitarbeiter ein.
»Ja, Stoker?«, sagte Narraway ungehalten. Er wartete schon eine ganze Weile auf die Informationen, die Pitt von West zu erlangen hoffte, und hatte jetzt keine Lust, mit jemandem zu reden.
Stoker, ein Mann mit schmalem Gesicht und hohem Nasenrücken, schloss die Tür hinter sich, trat an Narraways Schreibtisch und sagte mit ungewöhnlich ernster Miene: »Sir, vor einer aufgegebenen Ziegelei in der Nähe der Cable Road in Shadwell ist am helllichten Tag ein Mann ermordet worden …«
»Sind Sie sicher, dass mich das interessiert?«, fiel ihm Narraway ins Wort.
»Unbedingt, Sir«, gab dieser ohne zu zögern zurück. »Zwei Männer haben den Täter, der dem Opfer die Kehle durchgeschnitten hat, entdeckt, als er das Messer noch in der Hand hielt. Den Angaben der dortigen Polizeiwache nach sieht es so aus, als wären sie ihm nach Limehouse gefolgt, und von da …«
Ungeduldig fiel ihm Narraway ins Wort: »Ich erwarte Informationen über eine ausgedehnte Aktion sozialistischer Revolutionäre, bei der es unter Umständen zu Bombenanschlägen kommen kann.« Mit einem Mal überlief ihn ein kalter Schauer. »Also verscho…«
»West, Sir«, sagte Stoker. »Der Mann, dem man die Kehle durchgeschnitten hat, war unser Informant West. Die beiden Verfolger Pitt und Gower. Sie haben den Täter allem Anschein nach mindestens bis Limehouse verfolgt, möglicherweise sogar noch über die Themse hinweg bis zum Bahnhof. Von da aus kann er sich natürlich an jeden beliebigen Ort im Lande abgesetzt haben. Mehr haben wir nicht erfahren. Niemand hat angerufen.«
Narraway spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Beinahe empfand er diese Mitteilung als Erleichterung. Wo zum Teufel steckte dieser Pitt? Warum hatte er nicht zumindest angerufen? Selbst wenn er dem Täter im Nachtzug nach Schottland auf den Fersen blieb, hätte er an einem der Bahnhöfe kurz aussteigen und sich bei seiner Dienststelle melden können.
Dann kam ihm ein anderer Gedanke: und wenn der Täter nach Dover oder zu einem anderen Hafen geflohen war – Folkestone, Southampton …? Von einem Schiff aus würde Pitt nicht anrufen können. Das wäre eine denkbare Erklärung für sein Schweigen.
»Aha. Vielen Dank, Stoker«, sagte er.
»Sir.«
»Sagen Sie vorerst niemanden etwas davon.«
»Jawohl, Sir.«
»Noch einmal danke. Sie können gehen.«
Nachdem Stoker die
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