Der Verräter von Westminster
gesellschaftliches Ereignis wie beispielsweise das Pferderennen von Epsom verhindern.«
Pitt stellte sich vor, mit welcher Wut und Enttäuschung die Rennbegeisterten, wie empört die Angehörigen der Oberschicht auf die Unverfrorenheit derer reagieren würden, die ihnen den Besuch dieser von ihnen als äußerst wichtig erachteten Veranstaltung unmöglich machten.
Unwillkürlich trat ein Lächeln auf seine Züge, doch darin lag Bitterkeit. Auch wenn er nie den Kreisen jener angehört hatte, die dem »Zeitvertreib der Könige« huldigten, war er im Verlauf seiner Tätigkeit bei der Polizei mit einer ganzen Reihe von ihnen in Berührung gekommen. Er kannte ihre Leidenschaften und ihre Schwächen, hatte gesehen, dass manche von ihnen außerordentlichen Mut an den Tag legten, wusste aber auch, dass in ihren Augen Menschen, die nicht ihrer Schicht angehörten, einfach nicht zu existieren schienen. Wer sie dazu bringen wollte, etwas Bestimmtes zu tun, würde das mit Sicherheit nicht erreichen, indem er ihnen gewaltsam eins der wichtigsten Ereignisse in ihrem Kalender vorenthielt. Vermutlich war das auch längst jedem bewusst, der ernsthaft auf Revolution aus war.
Wodurch aber konnte man dann Veränderungen bewirken?
Gower machte ihn mit einer Geste darauf aufmerksam, dass er ihm noch nicht geantwortet hatte.
»Meister würde vielleicht so vorgehen«, sagte Pitt, »aber nicht Linsky. Der greift zu gewalttätigeren und wirksameren Mitteln.«
Gower überlief sichtlich ein leichter Schauder. »Es wäre mir lieber, Sie hätten das nicht gesagt. Es verdirbt einem die Freude an der Vorstellung, eine oder zwei Wochen in der Sonne zu verbringen, französisch zu essen und den Frauen beim Einkaufen zuzusehen. Haben Sie die Kleine aus Nummer sechzehn gesehen, die Rothaarige?«
»Ehrlich gesagt habe ich weniger auf ihre Haarfarbe geachtet«, gab Pitt mit breitem Lächeln zurück.
Gower lachte. »Ich auch nicht in erster Linie. Aprikosenkonfitüre finde ich übrigens gar nicht schlecht. Was sagen Sie? Und der Kaffee! Sicher würde mir eine anständige Tasse Tee auf die Dauer fehlen, aber so weit ist es noch nicht.« Er
schwieg wieder eine Weile, dann drehte er den Kopf zur Seite. » Was haben die Ihrer Meinung nach in England vor, Sir – einmal von einer reinen Machtdemonstration abgesehen? Was planen die auf lange Sicht?«
Die respektvolle Anrede »Sir« erinnerte Pitt daran, dass er als der Höherrangige die Verantwortung trug. Bei diesem Gedanken fuhr er innerlich zusammen. Es gab Dutzende von Möglichkeiten, und manche davon konnten durchaus schwerwiegende Folgen haben. In jüngster Zeit war auch in Großbritannien eine beträchtliche Zunahme an politischer Aktivität auf der linken Seite des Spektrums zu verzeichnen gewesen. Zwar waren deren Vertreter verglichen mit ihren gewalttätigen Gesinnungsgenossen auf dem europäischen Festland harmlos, doch musste das nicht unbedingt so bleiben. Nachdem James Keir Hardie in Schottland bei seiner Kandidatur für das Unterhaus die Wahl verloren hatte, war er vor drei Jahren erneut angetreten. Da er bei dieser Gelegenheit auf einen Wahlkreis unmittelbar außerhalb Londons gesetzt hatte, in dem überwiegend Arbeiter wohnten, hatte er Erfolg gehabt und war als erster Abgeordneter der Labour-Partei ins Parlament eingezogen. Pitt kannte ihn nicht persönlich, aber Charlottes Schwager Jack, der im Unterhaus saß, hatte gesagt, der Mann sei gar nicht so übel, nur vertrete er eben einige politische Ansichten, die er nicht teile.
Gower sah nach wie vor erwartungsvoll zu Pitt hin.
»Ich denke eher an eine konzertierte Aktion mit dem Ziel, einen Machtwechsel herbeizuführen«, sagte dieser bedächtig.
»Machtwechsel?«, fragte Gower zweifelnd. »Ist das eine Beschönigung für den Sturz der Regierung?«
»Möglicherweise«, gab ihm Pitt zur Antwort, und während er das sagte, merkte er, wie sehr er diese Möglichkeit fürchtete. »Außerdem hängt damit die Abschaffung ererbter
Vorrechte und der Verlust der damit verbundenen Macht zusammen. «
»Sprengstoffattentäter?«, fragte Gower im Flüsterton. Jeder Anflug von Fröhlichkeit war dahin. »So wie am Anfang des 17. Jahrhunderts, als man versucht hat, das Parlamentsgebäude mit Schwarzpulver in die Luft zu jagen?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll«, gab Pitt zurück. »Damit würden sie doch alle gegen sich aufbringen. Wir Engländer mögen es nicht, wenn man etwas mit Gewalt durchzusetzen versucht. Da
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