Der Verräter von Westminster
sein Vater als Wildhüter tätig war, selbstverständlich ohne auf der gleichen gesellschaftlichen Ebene wie dieser zu stehen. Die Bildung, die ihm dort zuteil geworden war, hatte ihn zu einem Mann von edler Denkart gemacht, dessen menschliches Mitgefühl und gelegentlich aufflammenden Zorn über Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft Narraway bewunderte. Es erstaunte ihn selbst, dass er Pitt vor dem Neid derer in Schutz nahm, die er aufgrund seiner Fähigkeiten überflügelt hatte, obwohl sie lange vor ihm in den Sicherheitsdienst eingetreten waren. Jetzt musste Narraway unbedingt Charlotte mitteilen, dass ihr Mann unter Umständen längere Zeit fortbleiben würde. Er räumte seinen Schreibtisch auf, schloss sorgfältig alle vertraulichen Papiere ein, verließ das Gebäude und winkte auf der Straße einer Droschke, deren Kutscher er Pitts Adresse nannte.
Er erkannte die Besorgnis in Charlottes Augen, kaum dass sie ihm geöffnet hatte. Ihr war sofort klar, dass es sich nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Die Empfindung, die er wahrnahm, erfüllte ihn mit Neid. Die Zeit, da sich jemand auf ähnliche Weise um ihn besorgt gezeigt hatte, lag lange zurück.
»Ich bedaure, Sie stören zu müssen«, sagte er mit steifer Förmlichkeit. »Heute ist bei uns nicht alles nach Plan gelaufen. Ihr Mann hat sich genötigt gesehen, mit seinem Mitarbeiter Gower einen mutmaßlichen Verschwörer zu verfolgen,
ohne dass sie Gelegenheit hatten, jemanden darüber zu informieren. «
Der Ausdruck von Besorgnis wich aus Charlottes Augen, und mit ihrer üblichen Freundlichkeit fragte sie: »Wo ist er?«
Er beschloss, mehr Sicherheit in seine Worte zu legen, als er empfand. Auch wenn es denkbar war, dass sich Wests Mörder nach Schottland abgesetzt hatte, hielt Narraway es für wahrscheinlicher, dass ihn seine Flucht über den Ärmelkanal geführt hatte, und so sagte er: »In Frankreich. Verständlicherweise hatte er auf der Fähre keine Möglichkeit zu telefonieren, und davor hat er vermutlich nicht gewagt, den Mann aus den Augen zu lassen, weil er ihm sonst hätte entwischen können. Es tut mir leid.«
Sie lächelte. »Es ist sehr aufmerksam von Ihnen, eigens zu kommen, um mir das zu sagen. Ich muss zugeben, dass ich angefangen hatte, mir Sorgen zu machen.«
Der Aprilabend war kalt, ein scharfer Wind brachte den Geruch nach Regen mit sich. Von der Vortreppe aus sah Narraway das Licht im Haus, spürte die Wärme, die herausdrang. Er tat einen Schritt zurück. Ihn ängstigten seine Gedanken, die Verlockung, die seinen Puls beschleunigte.
»Dazu besteht kein Anlass«, sagte er rasch. »Gower ist ein erstklassiger Mann und spricht recht gut Französisch. Ganz davon abgesehen dürfte es dort wärmer sein als hier.« Er lächelte. »Außerdem isst man dort sehr gut.« Charlotte war gerade dabei gewesen, das Abendessen vorzubereiten. Wie ungeschickt von ihm, dieses Thema anzusprechen! Zum Glück stand er so weit im Dunkeln, dass sie nicht sehen konnte, wie er rot wurde. Jeder Versuch, diesen Tritt ins Fettnäpfchen ungeschehen zu machen, wäre plump gewesen, daher war es besser, die Sache stillschweigend auf sich beruhen zu lassen. »Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich etwas von ihm höre. Falls der Mann, dem sie folgen, nach Paris weiterzieht, wird es für die
beiden unter Umständen nicht ganz einfach sein, mit mir in Kontakt zu bleiben, aber machen Sie sich bitte um Ihren Mann keine Sorgen.«
»Vielen Dank, ich weiß jetzt, dass das nicht nötig ist.«
Ihm war klar, dass das eine höfliche Lüge war. Natürlich würde sie sich Sorgen machen. Vor allem würde sie ihn vermissen. Zwar gehört zur Liebe stets die Möglichkeit des Verlusts, doch die mit der Abwesenheit des geliebten Menschen einhergehende Leere war weit schlimmer.
Er nickte ganz leicht und verabschiedete sich. Als er ging, kam es ihm vor, als lasse er das Licht hinter sich zurück.
Um die Mitte des nächsten Vormittags bekam Narraway das von Pitt in Saint Malo aufgegebene Telegramm. Sogleich ließ er ihm so viel Geld anweisen, dass es für ihn und Gower mindestens zwei Wochen lang reichen würde. Kaum hatte er die Anweisung abgeschickt, hielt er sie für zu großzügig. Möglicherweise war sie ein Maßstab dafür, wie sehr es ihn erleichtert hatte, Pitt in Sicherheit zu wissen. Überrascht merkte er, wie schwer es ihm gefallen war, die Sorge von sich fernzuhalten. Er würde noch einmal das Haus in der Keppel Street aufsuchen müssen, um Charlotte mitzuteilen,
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