Der Verräter von Westminster
damit sie der Königin zur Hand gehen konnte. Einer der Wächter, der etwas zu essen brachte, ließ die Geiseln nicht einmal aus den Augen, wenn sie ihre Notdurft verrichten mussten.
Die Unterhaltung im großen Salon von Osborne House war gestelzt, denn in Gegenwart der Königin fühlte sich niemand imstande, unbefangen und natürlich zu sprechen. Charlotte sah zu der alten Dame hin. Auf diese geringe Entfernung und ohne die durch eine förmliche Situation erzeugte Distanz kam sie ihr vor wie ihre eigene Großmutter, eine alte Dame, die sie über die Jahre hinweg geliebt, gehasst, gefürchtet und später vor allem bemitleidet hatte. Als Kind hatte sie nie gewagt, etwas zu sagen, was sich als ungezogen auslegen ließ, doch im Laufe der Jahre hatte ihre Wut sowohl die Angst als auch den Respekt hinweggefegt, und sie hatte offen gesagt, was sie dachte. In jüngster Zeit hatte sie schreckliche Geheimnisse über ihre Großmutter erfahren, woraufhin sich ihr Abscheu in Mitgefühl verwandelt hatte.
Jetzt sah sie zu der kleinen, fülligen Dame von Mitte siebzig hinüber, deren Haut deutlich ihr Alter zeigte und deren dünne Haare unter ihrem Spitzenhäubchen kaum zu sehen waren. Über ein halbes Jahrhundert lang saß sie jetzt schon auf Englands Thron, doch niedergedrückt hatte sie nicht die damit verbundene Verantwortung, sondern die bittere Last der Einsamkeit, die ihre Witwenschaft mit sich gebracht hatte. In den Augen der Welt hingegen war sie die glanzvolle Königin, Kaiserin
und Verteidigerin des Glaubens, deren zahlreiche Töchter durch Heirat mit der Hälfte der europäischen Herrscherhäuser verbunden waren.
Während sie aus den Fenstern eines der Obergeschosse von Osborne House im langsam abnehmenden Licht des hereinbrechenden Abends den Blick über Felder und Bäume schweifen ließ, war sie nichts als eine müde alte Frau, die über Dienstpersonal und Untertanen verfügte, aber niemanden hatte, mit dem sie von Gleich zu Gleich verkehren konnte. Wahrscheinlich würde sie nie erfahren, ob irgendjemand sie auch nur angesehen hätte, wenn sie eine gewöhnliche Sterbliche gewesen wäre. Die Einsamkeit, in der sie lebte, war unvorstellbar.
Würden die Männer sie töten, die im Vestibül mit ihren Schusswaffen gewalttätigen Träumen von Gerechtigkeit für Menschen nachhingen, die nie und nimmer gewollt hätten, dass man sie um diesen Preis erkaufte? Falls ja, würde sie das sonderlich beunruhigen? Eine Kugel ins Herz, und sie könnte endlich zu ihrem geliebten Albert heimkehren.
Würde man auch die übrigen umbringen: Narraway, Lady Vespasia und sie selbst, Charlotte? Und was war mit der Dienerschaft? Oder sahen die Geiselnehmer in ihnen gewöhnliche Menschen wie andere auch? Charlotte war überzeugt, dass die Diener sich selbst ganz anders sahen.
Sie hatte eine ganze Weile ruhig in einem Sessel am anderen Ende des großen Raums gesessen. Einem plötzlichen Impuls folgend, stand sie auf und trat ans Fenster. Sie hielt sich zwei Schritte von der Königin entfernt, denn neben sie zu treten wäre ungehörig gewesen. Vielleicht galt es sogar als ungehörig, überhaupt dort zu stehen, aber nun war sie einmal da.
Der Blick, der sich ihr bot, war herrlich. Sie konnte sogar sehen, wie sich in der Ferne das Sonnenlicht im Wasser des Ärmelkanals brach.
Das grelle Licht zeigte unbarmherzig jede Linie im Gesicht der Königin: die Spuren, die Müdigkeit, Kummer und Übellaunigkeit dort hinterlassen hatten, vielleicht auch die mit dem Gefühl der Einsamkeit verbundene Seelenqual. Ob sie Angst hatte?
»Es ist herrlich, Ma’am«, sagte sie leise.
»Wo wohnen Sie?«, fragte die Königin.
»In London, in der Keppel Street, Ma’am.«
»Gefällt es Ihnen da?«
»Ich habe mein Leben lang in London gewohnt, aber ich denke, dass es mir weniger gut gefallen würde, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, mir als Wohnort eine Stelle auszusuchen, wo ich so etwas wie das hier sehen und statt des Verkehrslärms nur den Wind in den Baumkronen hören könnte.«
»Können Sie als Krankenschwester denn nicht auf dem Lande arbeiten?«, fragte die Königin, nach wie vor den Blick geradeaus vor sich gerichtet.
Charlotte zögerte. Das war doch sicher der richtige Augenblick, ihr die Wahrheit zu sagen? Aber nein, es war nur Geplauder. Die Königin machte sich nicht das Geringste daraus, wo Charlotte wohnte. Es war völlig unerheblich, was sie zur Antwort gab. Wenn sie ohnehin alle erschossen werden sollten, auf welche Art von Antwort
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