Der Verräter von Westminster
äußerst exklusiven Herrenklub im Londoner West End handelte. Er hob den Blick und sah Stoker an. » Wie zum Teufel konnte jemand wie Gower Zutritt zum Hyde Club bekommen?«
»Das habe ich schon erkundet, Sir. Austwick hat ihn empfohlen und für ihn gebürgt. Das kann nur heißen, dass die beiden sehr gut miteinander bekannt waren.«
»Dann wollen wir uns einmal alle Fälle, die Gower und Austwick bearbeitet haben, gründlich ansehen«, schloss Pitt.
» Wir wissen doch schon, auf welche Weise sie in Verbindung gestanden haben.«
»Aber nicht, wer noch mit in der Sache steckt«, gab Pitt zurück. »Es müssen mehr als zwei sein. Das hier gibt uns einen guten Ansatzpunkt. Machen Sie weiter. Wir dürfen auf keinen Fall etwas übersehen.«
Stoker gehorchte schweigend. Er konzentrierte sich auf Gower, während sich Pitt mit allen Unterlagen beschäftigte, die er über Austwick finden konnte.
Gegen elf Uhr abends waren beide völlig erschöpft. Pitt hatte Kopfschmerzen, seine Augen brannten. Ihm war klar, dass es Stoker nicht anders ging.
Er legte das Blatt Papier auf den Tisch, das er gelesen hatte, bis ihm die Schrift vor den Augen verschwamm.
»Irgendwelche Ergebnisse?«, fragte er.
»Ein paar von diesen Briefen hier lassen mich vermuten, dass ihm Sir Gerald Croxdale dicht auf den Fersen war, Sir. Er hat offenbar kurz davor gestanden, ihm auf die Schliche zu kommen«, gab Stoker zurück. »Ich könnte mir denken, dass Austwick deswegen früher zugeschlagen hat, als ursprünglich geplant. Es war für alle ein ziemlicher Schock, dass er Narraway ausmanövriert hat – damit konnte er die Aufmerksamkeit von sich selbst ablenken.«
»Außerdem hat er dadurch die ganze Abteilung in die Hand bekommen«, fügte Pitt hinzu. »Zwar nicht lange, aber vielleicht hat die Zeit gereicht.« Das letzte Blatt, das er gelesen hatte, war ein Bericht von Austwick an Croxdale, doch er dachte an etwas völlig anderes.
Stoker wartete.
»Glauben Sie, dass Austwick der Mann an der Spitze ist?«, fragte er. »Ist er wirklich so viel klüger, als wir angenommen haben? Oder zumindest klüger, als ich angenommen habe?«
Stoker sah unglücklich drein. »Das glaube ich nicht, Sir. Ich habe nicht den Eindruck, dass er die Entscheidungen trifft. Ich habe viele von Mr Narraways Berichten gelesen – die sind
ganz anders als seine. Mr Narraway gibt da keine Anregungen, sondern sagt klipp und klar, was gemacht werden soll. Er weiß, dass er das Sagen hat, und setzt voraus, dass andere das auch wissen. Vielleicht hat er so nicht mit Ihnen gesprochen, aber mit uns schon. Bei ihm hat es nie das kleinste Zögern gegeben. Wenn man ihn gefragt hat, gab er einem eine Antwort. Ich vermute, dass sich Austwick erst woanders Anweisungen holt, bevor er sagt, was getan werden soll.«
Genau diesen Eindruck hatte Pitt gehabt: Der Mann schien bei jeder Entscheidung zu zögern, als müsse er zuvor alles mit jemandem abstimmen, der die Fäden in der Hand hielt.
Aber wenn ihm Croxdale fast auf die Schliche gekommen wäre, wieso dann Narraway nicht?
» Wem können wir vertrauen?«, fragte Pitt erneut. »Wir müssen eine kleine Streitmacht auf die Beine stellen, aber auf keinen Fall mehr als zwei Dutzend Männer. Wenn es mehr wären, würden die Leute Lunte wittern. Bestimmt achten die genau auf jede Bewegung in der Umgebung des Palasts auf der Insel.«
Stoker schrieb einige Namen auf ein Blatt Papier und schob es Pitt hin.
»Die sind in Ordnung«, sagte er ruhig.
Pitt ging die Liste durch, strich drei Namen durch und fügte zwei weitere hinzu. »Jetzt müssen wir Croxdale informieren und Austwick festnehmen lassen.« Er erhob sich und spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften. Er hatte ganz vergessen, wie lange er vorgebeugt dagesessen und Dokument um Dokument gelesen hatte.
»Ja, Sir. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig.«
» Wir brauchen zwar einen bewaffneten Trupp, können aber den Landsitz der Königin auf keinen Fall ohne Rückendeckung durch den Minister stürmen, ganz gleich, wie gut die Gründe sind, die dafür sprechen. Aber keine Sorge, was wir
hier haben, genügt.« Er nahm eine dünne lederne Aktentasche zur Hand und steckte die Papiere hinein, mit deren Hilfe er die Schlussfolgerung, zu der sie gelangt waren, belegen konnte. »Kommen Sie mit.«
Die Geiselnehmer, die auch Charlotte, Lady Vespasia und Narraway im behaglichen Salon der Königin festhielten, gestatteten von Zeit zu Zeit einer verängstigten Hofdame den Zutritt,
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