Der Verräter von Westminster
Stimme, in der keinerlei Gemütsbewegung mitschwang. Er atmete ein und stieß die Luft langsam wieder aus.
»Ich werde feststellen, wer Mulhare ans Messer geliefert hat«, sagte er mit leicht belegter Stimme. »Und auch, wer mir das angetan hat.« Er überlegte noch, ob er hinzufügen sollte, dass er es erst dann wieder für vertretbar halte, in den Sicherheitsdienst zurückzukehren, unterließ es aber, weil ihm das kleinlich erschien. »Guten Tag.«
Draußen auf der Straße sah alles genauso aus wie bei seiner Ankunft: eine Droschke hielt neben dem Gehsteig, hier und da sah man ein halbes Dutzend Männer in Anzügen mit gestreiften Hosen.
Er machte sich auf den Weg, ohne so recht zu wissen, wohin er ging. Er hatte jeden Richtungssinn verloren und dachte
mit einem Gefühl unendlicher Leere an die Möglichkeit, dass das zum Dauerzustand werden könnte. Er war achtundfünfzig Jahre alt und noch vor einer halben Stunde einer der mächtigsten Männer im Lande gewesen, auch wenn das kaum jemandem bekannt war. Man hatte ihm unumschränktes Vertrauen entgegengebracht, er hatte das Leben anderer Menschen in Händen gehalten, die Geheimnisse der Nation gekannt; die Sicherheit gewöhnlicher Männer und Frauen hatte von seiner Urteilskraft und seinem Geschick abgehangen.
Jetzt aber war er ein Mann ohne Ziel und ohne Einkommen, auch wenn ihm der letzte Punkt keine unmittelbaren Sorgen bereitete, denn der von seinem Vater ererbte Landbesitz ermöglichte ihm ohne weiteres einen angemessenen Lebensstil, wenn auch kein Schwelgen im Luxus. Er hatte keine Verwandten mehr, und mit zunehmender Beklemmung kam ihm zum Bewusstsein, dass er zwar Bekannte, aber keine wirklichen Freunde besaß. Das hatte sein Beruf in den Jahren, in denen seine Macht immer mehr angewachsen war, unmöglich gemacht. Es waren zu viele Geheimnisse zu wahren gewesen, und er hatte gar nicht vorsichtig genug sein können.
Es wäre lächerlich und sinnlos, sich jetzt dem Selbstmitleid hinzugeben. Wenn er so tief sank, was hätte er da Besseres verdient? Er musste sich zur Wehr setzen. Offenbar hatte ihm jemand das mit voller Absicht eingebrockt, denn andernfalls ergäbe die ganze Geschichte keinen Sinn. Zu seinem Bedauern konnte er sich ohne weiteres von rund zwei Dutzend Menschen vorstellen, dass sie ihm das aus einer ganzen Reihe von Gründen angetan hatten. Der Einzige, auf dessen Hilfe er hätte zählen können, war Pitt – der aber jagte in Frankreich sozialistische Reformer, die von Gewalttat und Umsturz träumten.
Mit raschen Schritten ging er Whitehall entlang, ohne nach rechts und nach links zu sehen, wobei er vermutlich, ohne es
zu merken, an Menschen vorbeikam, die er kannte. Keinen von ihnen würde es stören, dass er sie nicht zur Kenntnis nahm. Wenn seine angeblich vorläufige Amtsenthebung erst einmal allgemein bekannt war, würden sie wahrscheinlich erleichtert sein. Mit ihm war nicht leicht auszukommen, und sogar Menschen mit außerordentlich vertrauensseligem Gemüt neigten dazu, unlautere Motive hinter seinen Entscheidungen und allem zu wittern, was er tat; Geheimnisse zu vermuten, die es in Wirklichkeit nicht gab.
Auf Whitehall folgte Parliament Street, dann bog er nach links ab und ging weiter, bis er die Themsebrücke von Westminster erreichte, von der aus er über das vom Wind gepeitschte Wasser nach Osten blickte.
Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, sein Büro aufzusuchen, um dort die Papierberge auf der Suche nach Unregelmäßigkeiten und Zahlen, die nicht zueinander passten, zu sichten. Damit blieb es ihm verwehrt, Dinge zu finden, die ihm einen Hinweis darauf hätten liefern können, wo er den Feind zu suchen hatte, der aus Habgier, Hass oder weil er zwei Herren diente, Verrat an Mulhare und damit zugleich an ihm geübt hatte.
Dann kam ihm ein noch weit entsetzlicherer Gedanke. War Mulhare womöglich nur zufällig zum Opfer geworden, während in Wahrheit das eigentliche Ziel des Komplotts er selbst war?
Während sich diese Frage in seinem Kopf immer deutlicher abzeichnete, begann er sich voll Bitterkeit zu fragen, ob er die Antwort darauf wirklich wissen wollte. Wer mochte das sein, dem er vertraut und in dem er sich so schrecklich getäuscht hatte?
Er merkte, dass Hass in ihm aufstieg, doch er mahnte sich, ihm nicht nachzugeben. Ein gewisses Maß an Wut war in Ordnung – das weckte die Kräfte, die nötig waren, um sich zur
Wehr zu setzen, nicht den Mut zu verlieren oder müde zu werden. Es half, die Leere zu überwinden,
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