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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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besser.«
    »Ich brauche sicher die ganze Nacht, um das zu lesen und mir Notizen zu machen«, hielt Narraway dagegen, doch noch während er das sagte, war ihm klar, dass der Mann Recht hatte. Es war zu gefährlich, diese Dokumente auch nur einen Tag aus Lisson Grove zu entfernen, denn wenn ihr Fehlen erst einmal entdeckt war, würde es keine Möglichkeit mehr geben, sie an Ort und Stelle zurückzubringen. Jeder, der auch nur einen Funken Verstand hatte, würde sie bei Narraway vermuten und als Nächstes festzustellen versuchen, wer sie ihm zugespielt hatte. Er hatte kein Recht, Stoker auf diese törichte Weise zu gefährden oder gar zugrunde zu richten. Damit würde er ihm die Ergebenheit schlecht lohnen, falls die dessen Triebfeder gewesen war. Unter Umständen gab es ja auch andere Gründe für seine Handlungsweise, doch Narraway hielt sich lieber an die Annahme, dass es sich um Ergebenheit handelte. Er konnte es sich nicht leisten, etwas anderes zu vermuten.
    »Ich sehe zu, dass ich sie noch vor dem Morgengrauen ganz durchgehen kann«, versprach er. »Drei Uhr. Sie können dann wiederkommen und sie abholen. Auf die Weise haben Sie die Möglichkeit, noch vor Tagesanbruch ins Büro zu gehen und wieder zu verschwinden. Oder Sie können sich oben in meinem Gästezimmer hinlegen, wenn Ihnen das lieber ist. Das wäre wohl auch klüger, denn dann würden Sie niemandem über den Weg laufen.«
    Stoker rührte sich nicht. »Ich bleibe lieber hier, Sir. Ich verstehe mich zwar ziemlich gut darauf, nicht gesehen zu werden, aber es dürfte das Beste sein, das Risiko gar nicht erst einzugehen. «
    Narraway nickte. Offensichtlich hatte Stoker begriffen, welche Gefahr er auf sich nahm. Das war wohl auch ganz gut
so, denn man sollte seine Feinde nie unterschätzen. Er selbst begann erst nach und nach zu erfassen, wie mächtig der Gegner sein musste, mit dem er es zu tun hatte.
    »Im Obergeschoss gleich hinter der Treppe links«, sagte er. »Da finden Sie alles, was Sie brauchen.«
    Stoker dankte ihm und ging, wobei er die Tür geräuschlos hinter sich zuzog.
    Narraway drehte das Gas für den Glühstrumpf etwas weiter auf, setzte sich in den bequemen Sessel am Kamin und begann zu lesen.
    Die ersten Seiten beschäftigten sich mit dem Fall Mulhare und der Zusage, dass dieser für seine Mitarbeit einen großen Geldbetrag bekommen würde. Letzterer war nicht so sehr als Belohnung gedacht, sondern sollte ihm die Möglichkeit geben, Irland zu verlassen und statt nach Amerika, wie man wohl allgemein annehmen würde, nach Südfrankreich zu gehen, weil die Wahrscheinlichkeit geringer war, dass ihn seine Feinde dort suchten.
    Aufgrund von Austwicks Mitteilung war es Narraway inzwischen schmerzlich bewusst, dass Mulhare das Geld nicht bekommen hatte, weshalb er in Irland geblieben und umgebracht worden war. Nur war Narraway nach wie vor unbekannt, wieso das Geld seinen Empfänger nicht erreicht hatte. Er wusste genau, dass er es von einem seiner eigenen Konten weitergeleitet hatte, allerdings unter einem anderen Namen, damit niemand merkte, dass es von ihm und damit vom Sicherheitsdienst kam. Kein Ire wollte, dass man es an die große Glocke hängte, wenn er aus dieser Quelle finanziert wurde.
    Narraway hatte das Geld ausgezahlt, genauer gesagt, alle dafür nötigen Formulare ausgefüllt und sich vergewissert, dass es angewiesen wurde. Jetzt war es auf unerklärliche Weise zurückgekehrt.

    Er hatte sich für dies umständliche Verfahren entschieden, um Mulhare zu schützen, und jetzt sah es ganz so aus, als habe sich jemand in den Kreislauf des Geldes eingeschaltet, um das genaue Gegenteil zu bewirken, nämlich, dass Mulhare in Irland blieb und getötet wurde, wie es dieser von Anfang an befürchtet hatte.
    Die übrigen Unterlagen bezogen sich auf einen zwanzig Jahre zurückliegenden Fall, den Narraway am liebsten vergessen hätte. Zu jener Zeit waren die Wogen von Gewalttat und Leidenschaftlichkeit noch höher gegangen als sonst.
    Damals war Charles Stewart Parnell, ein Mann von feuriger Beredsamkeit, der dank seiner Abkunft aus dem protestantischen Establishment Irlands beste Beziehungen bis hinauf in die höchsten Gesellschaftskreise hatte, gerade ins Unterhaus gewählt worden. Darüber hinaus war er ein äußerst aktives Mitglied im Rat der Liga für die irische Selbstbestimmung gewesen. Er hatte eine harte Linie vertreten und der Erreichung dieses Ziels sein ganzes Leben untergeordnet. Mit einem Mal hatte es wieder Hoffnung gegeben, dass

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