Der Verräter von Westminster
ihn von seinem Amt zu suspendieren. Für so etwas genügten Zweifel, vorausgesetzt, sie waren hinreichend schwerwiegend. In solchen Fällen wartete man nicht auf Beweise, die womöglich nie kamen.
Er las die Papiere ein weiteres Mal durch, einfach, um sich zu vergewissern, dass er keinem Irrtum aufgesessen war, dann legte er sie erneut in den Umschlag zurück und ging nach oben, um Stoker zu wecken, damit dieser möglichst früh, und auf jeden Fall noch vor der Morgendämmerung, aufbrechen konnte.
Er klopfte an die Tür des Gästezimmers, und Stoker meldete sich. Als er die Tür öffnete, stand Stoker bereits neben dem Bett. Im Licht, das vom Treppenabsatz hereinfiel, konnte man deutlich sehen, dass die Decke kaum eingedrückt war. Eine rasche glättende Handbewegung, und es würde aussehen, als sei der Mann nie dagewesen.
Stoker sah Narraway fragend an.
»Ich danke Ihnen«, sagte dieser ruhig. Die Rührung in seiner Stimme war deutlicher zu hören, als er gewollt hatte.
»Allem Anschein nach haben Sie etwas gefunden«, bemerkte Stoker.
»Verschiedenes«, gab Narraway zu. »Jemand hat Buckleighs Randnotizen in meinem Bericht überaus umsichtig bearbeitet und damit ihren Sinn verändert. Zwar nur ganz wenig, aber es genügt, um den angestrebten Zweck zu erreichen.«
Stoker trat auf den Gang, und Narraway gab ihm den Umschlag. Stoker schob ihn so unter seine Jacke, dass man ihn nicht sehen konnte, kniffte ihn aber nicht und schob ihn auch nicht in den Hosenbund. Er wollte auf keinen Fall, dass er an den Rändern beschädigt wurde – auch dies ein Hinweis auf das Risiko, das er mit diesem Unternehmen auf sich genommen hatte. Er sah Narraway in die Augen.
»Austwick ist an Ihre Stelle getreten, Sir.«
»Schon?«
»Ja, Sir. Da Mr Pitt gegenwärtig in Frankreich ist, haben Sie in Lisson Grove keine Freunde mehr, jedenfalls keine, die bereit sind, etwas für Sie aufs Spiel zu setzen. Die Parole heißt ganz offensichtlich ›Jeder ist sich selbst der Nächste‹«, sagte er mit finsterer Miene. »Ich fürchte, es gibt auch niemanden mehr im Hause, der Mr Pitt helfen würde, falls er in Schwierigkeiten geriete.«
»Das ist mir klar«, sagte Narraway, der zutiefst unglücklich darüber war, dass er Pitt nicht mehr vor Neid und Missgunst derer bewahren konnte, die schon lange im Sicherheitsdienst tätig waren, als Narraway ihn eingestellt hatte.
Stoker zögerte, als wolle er noch etwas sagen, unterließ es dann aber. Er nickte schweigend und ging nach unten ins Wohnzimmer. Dort tastete er sich, ohne Licht zu machen, zu den Fenstertüren vor, öffnete sie und glitt hinaus in den Wind und die Dunkelheit.
Narraway schloss die Türflügel hinter ihm und ging wieder nach oben. Er entkleidete sich und ging zu Bett, lag aber lange
wach und starrte die Decke an. Er hatte die Vorhänge offen gelassen, und ganz allmählich wichen mit der Frühlingsnacht die Schatten an der Decke. Man konnte es kaum sehen, es war gerade so viel, dass man merkte, draußen zeigte sich Licht.
Es war noch keine zwei Tage her, dass Austwick zu ihm ins Büro gekommen war. Narraway hatte kaum auf das geachtet, was der Mann zu sagen hatte: Er war ihm lästig gewesen, nichts weiter. Dann hatte Croxdale ihn kommen lassen, und alles war anders geworden. Die Situation kam ihm so vor, als gehe er eine steile Treppe hinab, nur um festzustellen, dass die unterste Stufe fehlte, so dass er mit rudernden Armen ins Leere stürzte – und weit und breit war nichts, woran er sich hätte festhalten können.
So blieb er bis Tagesanbruch liegen. Mit einem Schmerz, der ihn überraschte, machte er sich klar, einen wie großen Teil seiner selbst er verloren hatte. Es war seine Gewohnheit, morgens früh aufzustehen, ganz gleich, ob er geschlafen hatte oder nicht. Die Pflicht war eine unerbittliche Gebieterin, doch mit einem Mal erkannte er, dass sie überdies eine den Menschen treu ergebene beständige Begleiterin war, die zu schätzen wusste, was sie taten. Sie war nie bedeutungslos.
Ohne sie fühlte er sich nackt und bloß. Wie sehr mochte er es dann erst in den Augen anderer sein! Er war es gewohnt, dass man ihn nicht besonders gut leiden konnte. So war das nun einmal bei Menschen, die viel Macht hatten und viele Geheimnisse kannten. Aber noch nie war es vorgekommen, dass er nicht gebraucht wurde.
KAPITEL 3
Am frühen Abend saß Charlotte im Wohnzimmer dem Sessel ihres Mannes gegenüber allein am Kamin. Jemima und Daniel waren bereits im Bett. Man hörte
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