Der Verräter von Westminster
noch nicht da gewesen war.
Er musste ihre Besorgnis erkannt haben, was nicht weiter verwunderlich war. Mit kläglichem Lächeln sagte er: »Ich habe nichts Neues von Ihrem Mann gehört, doch besteht kein Grund anzunehmen, dass es ihm nicht gutgeht. Wahrscheinlich hat er dort sogar besseres Wetter als wir hier.« Behutsam fuhr er fort: »Allerdings bin ich überzeugt, dass er es langweilig
findet, auf den Straßen der Stadt jemanden zu beschatten und dabei den Eindruck zu erwecken, als mache er Ferien.«
Sie schluckte. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, und die Erleichterung, die ihren ganzen Körper durchlief, erfüllte sie mit einem Schwindelgefühl. » Was ist es dann?«
Ein Anflug von Belustigung blitzte flüchtig in seinen Augen auf und verschwand gleich wieder. »Ach je, sieht man es mir so deutlich an?«
Zwar überraschte es sie, dass er sich ihr gegenüber so freimütig geäußert hatte wie noch nie zuvor, beinahe so, als seien sie gute alte Bekannte, aber dennoch empfand sie es nicht als unnatürlich.
»Ja«, erwiderte sie. »Ich kann nur sagen, dass Sie entsetzlich aussehen. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Tee oder lieber Whisky? Vorausgesetzt, dass wir welchen im Hause haben. Da bin ich jetzt gar nicht sicher. Der beste ist vermutlich bei Gracies Hochzeit ausgetrunken worden.«
»Ach ja, Gracie.« Diesmal war sein Lächeln ungekünstelt. Eine Spur von Herzlichkeit lag darin, und es veränderte den ganzen Ausdruck seines Gesichts. »Ihr Anblick hier im Haus wird mir fehlen. Mit jedem Zoll ihrer ein Meter fünfzig war sie ein großartiges Geschöpf.«
»Genau genommen waren es nicht einmal ganz ein Meter fünfzig«, berichtigte ihn Charlotte mit Wärme in der Stimme. »Glauben Sie mir, Sie können sie unmöglich so sehr vermissen wie ich.«
»Das höre ich Ihrer Stimme an«, bemerkte er und trat ein wenig näher ans Feuer, obwohl der Abend nicht sonderlich kalt war. »Diese Mrs … Lemon ist Ihnen wohl nicht besonders ans Herz gewachsen?«
»Waterman«, korrigierte sie. »Aber Lemon würde gut passen, denn sie ist meist wirklich so säuerlich wie eine Zitrone. Ich glaube, sie missbilligt mich und was ich tue. Möglicherweise
gewöhnen wir uns ja eines Tages aneinander. Sie kocht durchaus gut, und wo sie geputzt hat, könnte man ohne weiteres vom Fußboden essen.«
»Danke, aber ich begnüge mich mit dem Tisch«, sagte er trocken.
Sie setzte sich auf das Sofa, denn es war ihr unbehaglich, am Kamin so nahe bei ihm zu stehen. »Bestimmt sind Sie nicht gekommen, um sich nach den Einzelheiten meines Haushalts zu erkundigen. Selbst wenn Sie Mrs Waterman kennen würden, würde das noch nicht hinreichen, um den Kummer zu erklären, den ich in Ihrem Gesicht lese. Was ist geschehen? « Als sie merkte, dass ihre Hände, die sie fest ineinandergeschlungen im Schoß hielt, schmerzten, zwang sie sich, sie voneinander zu lösen.
Eine kurze Weile hörte man im Raum keinen Laut außer dem Knistern des Feuers. Es war, als habe sich Narraway noch nicht überlegt, was er eigentlich sagen wollte.
Während sie wartete, nahm ihre Besorgnis wieder zu, und ihre Finger schlangen sich erneut ineinander.
Er holte tief Luft, ließ sie wieder entweichen, wandte den Blick zum Kaminfeuer. »Man hat mich meines Postens im Sicherheitsdienst enthoben. Wie es heißt, handelt es sich dabei lediglich um eine vorläufige Maßnahme, aber die Leute werden mit Sicherheit dafür sorgen, dass sie von Dauer sein wird, wenn sie eine Möglichkeit dazu finden.« Er schluckte, als habe er Halsschmerzen, und sah dann zu ihr hin. »Das betrifft insofern auch Sie, als ich keinen Zutritt mehr zu meinem Büro und damit auch keinen Zugang zu den darin befindlichen Unterlagen habe. Ich werde also nicht erfahren, wie sich die Dinge in Frankreich oder wo auch immer entwickeln. An meine Stelle ist Charles Austwick getreten, dem Ihr Mann nicht genehm ist und der ihm nicht traut. Ersteres aus Neid, weil Pitt ihn, obwohl er nach ihm eingestellt wurde, weit
überflügelt hat, wenn auch nicht, was den offiziellen Dienstgrad angeht. Dass er ihm nicht traut, geht darauf zurück, dass die beiden so gut wie nichts miteinander gemeinsam haben. Das hängt nicht nur mit dem Hintergrund der beiden zusammen – während Ihr Mann von der Polizei kommt, war Austwick früher beim Heer. Pitt hat Eingebungen, die der Kommisskopf Austwick nie verstehen würde. Hinzu kommt, dass er sich maßlos über das ärgert, was er als Pitts mangelnde Ordnungsliebe ansieht.« Er
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