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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verwundbarsten war, da man Narraway daraus entfernt und seine Arbeit in Misskredit gebracht hatte. War das, worum es jetzt ging, für Cormac nur ein zusätzlicher Nebeneffekt, ein eleganter Schlenker, der dem Ganzen Pfiff verlieh? Hatte es mit der von den anarchistischen Reformern Europas geplanten sozialistischen Revolution zu tun, mit der sie die alte Ordnung mitsamt ihrer Korruption und ihrer Ungleichheit hinwegfegen wollten, und zwar auf die einzige Weise, die ihrer Ansicht nach funktionieren würde, nämlich mit Gewalt? Er legte die Papiere wieder zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag. Dann blieb er still im Dunkeln sitzen und dachte eine Weile über das alles nach.
    Mühelos konnte er die alten Erinnerungen wachrufen. Er ging wieder an der Seite Kates in der Stille des Herbstes durch reifbedecktes rotes und gelbes Laub, das unter ihren Füßen leise brach. Sie hatte keine Handschuhe bei sich, und so hatte er ihr seine geliehen. Er spürte in der Erinnerung, wie seine Hände vor Kälte schmerzten. Sie hatte ihn deshalb ausgelacht, mit fröhlich lächelnden Augen, während sie bittere Späße darüber gemacht hatte, dass englische Wolle die Hände Irlands wärmte.
    Bei ihrer Rückkehr in den Gasthof waren Sean und Cormac da gewesen, und sie hatten miteinander am offenen Torffeuer Roggenwhiskey getrunken. Er konnte sich noch an den Torfgeruch erinnern, wie auch daran, dass Kate gescherzt hatte, wie gut es sei, dass er keinen Wodka haben wolle, da Kartoffeln zu knapp seien, als dass man sie zur Schnapsherstellung vergeuden dürfte.
    Er hatte darauf keine Antwort gegeben. Noch dreißig Jahre nach der großen Hungersnot hatte das Land damals unter deren Folgen gelitten. Nichts, was er hätte sagen können, wäre geeignet gewesen, das herunterzuspielen.

    Es gab auch noch andere Erinnerungen, und sie alle hatten mit heftigen Gefühlsaufwallungen, Treubruch und Bedauern zu tun. Hatte nicht der Herzog von Wellington einmal gesagt, es gebe nichts Schlimmeres als eine gewonnene Schlacht – außer einer verlorenen? Oder etwas in der Art.
    Hatte der damals von Narraway erstattete Bericht der Wahrheit entsprochen? Natürlich war er geschönt gewesen, von allen menschlichen und leidenschaftlichen Elementen befreit – aber alles, was für den Sicherheitsdienst von Bedeutung war, hatte der Wahrheit entsprochen, und er hatte eine hinreichende Menge an Informationen enthalten.
    Dann kam ihm ein Gedanke. In einem Punkt stimmte etwas möglicherweise nicht ganz. Er stand auf, drehte das Gaslicht erneut heller und nahm die Blätter wieder aus dem Umschlag. Er las sie noch einmal von Anfang bis Ende, wie auch die von seinem damaligen Vorgesetzten Buckleigh angebrachten Randnotizen. Beim ersten Lesen hatte er sich nicht mit ihnen beschäftigt, weil er genau wusste, was darin stand, und er daran nicht erinnert werden wollte. Man hatte seine Entstellung der Wahrheit zu jener Zeit nur allzu bereitwillig geglaubt, wobei er sich hauptsächlich gewisser Auslassungen schuldig gemacht hatte. Da er die Operation in Buckleighs Auftrag durchgeführt hatte, war diesem nichts anderes übriggeblieben, als den Bericht zu akzeptieren, wie er war. Vom Standpunkt der Moral musste man auch ihm Vorwürfe machen.
    Narraway fand, was er befürchtet hatte: Man hatte etwas hinzugefügt, nur ein oder zwei Wörter. Jemandem, der Buckleighs Art zu formulieren nicht kannte, wäre das nie aufgefallen. Die Handschrift sah völlig gleich aus, doch die hinzugefügten Wörter änderten den Sinn der Aussage. Zwar nur ein wenig, aber es genügte, um Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass Buckleigh das in Narraways Bericht Enthaltene uneingeschränkt geglaubt hatte. An einer Stelle war lediglich ein Fragezeichen
hinzugefügt worden, das ursprünglich nicht dagestanden hatte, an einer anderen hatte, wer auch immer das geschrieben hatte, eine Wendung benutzt, die Buckleigh nie aus der Feder gekommen wäre. Er hätte nie im Leben geschrieben » Wo hat er das her?«, sondern mit seinem geradezu pedantisch korrekten Satzbau grundsätzlich » Woher hat er das?«.
    Von wem stammten diese Zusätze – und wann waren sie eingefügt worden? Bei der Frage nach dem Warum gab es für Narraway nicht den geringsten Zweifel: Jemand wollte die Rolle, die er bei der Geschichte gespielt hatte, als zwielichtig hinstellen, die alten Geister heraufbeschwören und erneut zum Leben erwecken. Vielleicht war das der entscheidende Faktor gewesen, der Croxdale dazu veranlasste hatte,

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