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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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es für Irland nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft eine Möglichkeit geben würde, dies Joch endlich abzuschütteln und sich erneut selbst zu regieren. Die Freiheit lockte, und die Menschen hätten die entsetzliche Zeit der durch die Kartoffel-Missernte verursachten Hungersnot vergessen können.
    Selbstverständlich hatte Narraway im Jahre 1875 noch nicht den Sicherheitsdienst geleitet, sondern war im Außendienst tätig gewesen. Man hätte den drahtigen und kräftigen Mann von Mitte dreißig mit seinem raschen Verstand, beträchtlichen Charme und trockenen Humor dank seiner schwarzen Haare und nahezu schwarzen Augen ohne weiteres für einen Iren halten können. Sofern jemand das tat, wie in jenem bewussten Fall, unternahm er nichts, um den Irrtum richtigzustellen.

    Damals hatte ein gewisser Cormac O’Neil die Sache der Iren verfochten, ein Grübler mit einem Naturell so finster wie eine Herbstlandschaft voll plötzlich auftretender Schatten und am Horizont dräuender Gewitter. Er liebte die Geschichte seines Landes, vor allem die mündlich überlieferte und in alten Liedern unsterblich gemachte. Auch wenn ihm klar war, dass die Hälfte davon wohl auf Erfindung beruhte, glaubte er an gefühlsbetonte Wahrheiten, an den Kummer im kollektiven Gedächtnis des irischen Volkes – kurz, er sehnte sich nach allem, was er nicht haben konnte.
    Während Narraway diese Dinge ins Gedächtnis kamen, erinnerte er sich zugleich mit Bedauern und voll Schuldgefühl an Cormacs Bruder Sean und noch lebhafter an dessen Frau Kate. Die schöne Kate, so lebendig, so tapfer, so vernünftig und zugleich so blind den gefährlichen Empfindungen anderer gegenüber, die sich gekränkt fühlten.
    In der Stille seines mit typisch englischen Erinnerungsstücken angefüllten Londoner Heims kam es ihm jetzt vor, als liege Irland am anderen Ende der Welt. Kate und Sean lebten nicht mehr. Narraway hatte gewonnen, und der von den Iren geplante Aufstand war ohne Blutvergießen auf beiden Seiten in sich zusammengebrochen. Nichts Spektakuläres hatte stattgefunden, das Ganze war einfach sacht dahingeschwunden wie ein Wintertag mit der Abenddämmerung. Darin hatte Narraways Sieg bestanden, und niemand hatte je davon erfahren.
    Auch Charles Stewart Parnell lebte nicht mehr. Vor dreieinhalb Jahren, im Oktober 1891, war er einer Lungenentzündung erlegen. Durch eine sich über Jahre hinziehende wilde und verhängnisvolle Affäre mit der Gattin eines Parteifreundes, Hauptmann O’Shea, die in ganz England für Aufsehen gesorgt hatte, war er zwischen alle Stühle geraten und hatte sich damit politisch ins Abseits manövriert.

    Der Traum von der Selbstbestimmung Irlands hatte sich nach wie vor nicht erfüllt, und geblieben war nichts als Groll.
    Ein Schauer überlief Narraway in seinem warmen, vertrauten Wohnzimmer, in dessen Kamin die letzte Glut noch glomm und wo die Gaslampen einen goldenen Lichtschimmer auf ihn und seine Umgebung warfen. Die Kälte in seinem Inneren ließ sich durch diese Annehmlichkeiten nicht vertreiben und auch nicht durch Worte, Gedanken oder Bedauern.
    Ob Cormac O’Neil noch lebte? Es gab keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. In dem Fall dürfte er jetzt Mitte fünfzig bis knapp sechzig Jahre alt sein. Er konnte durchaus hinter dieser Geschichte stecken, denn er hatte nach dem fehlgeschlagenen Aufstand, nach Seans und Kates Tod, weiß Gott mehr Grund, Narraway zu hassen, als jeder andere Mensch auf der Erde.
    Aber warum hätte er mit seiner Vergeltung zwanzig Jahre warten sollen? Wenn nun Narraway einem Unfall zum Opfer gefallen oder eines natürlichen Todes gestorben wäre, was ohne weiteres möglich war, hätte das Cormac O’Neil um seine Rache gebracht.
    Konnte ihn in der Zwischenzeit etwas gehindert haben? Eine Krankheit, die ihn geschwächt hatte? Nicht zwanzig Jahre lang. War er im Gefängnis gewesen? Bestimmt hätte Narraway davon erfahren, wenn es sich um eine Tat gehandelt hätte, die eine so lange Haft rechtfertigte. Außerdem gab es sogar aus dem Gefängnis heraus Möglichkeiten, mit der Außenwelt Verbindung aufzunehmen.
    Unter Umständen hatte dieser Fall doch nichts mit der Vergangenheit zu tun. Oder galt die auf diese Weise verübte Rache gar nicht Narraway als Person, sondern England? Hatte Cormac möglicherweise begriffen, dass auch Narraway wie sie alle lediglich für das eigene Land und seine eigenen Überzeugungen eintrat? Immerhin war es denkbar, dass der Sicherheitsdienst
gerade in diesem Augenblick am

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