Der Verräter von Westminster
seufzte. »Und natürlich auch darüber, dass er mein Schützling ist … nun ja, war.«
Wie war es möglich, etwas im selben Augenblick zu glauben und für unglaublich zu halten? Charlotte war wie betäubt, so dass es ihr unmöglich war, mit dem Verstand aufzunehmen, was Narraway gesagt hatte. Doch ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr, dass es keinen Grund gab, an seinen Worten zu zweifeln. Plötzliches Mitleid mit ihm erfasste sie, und sie wandte sich ab, damit er ihr das nicht anmerkte. Dann ging ihr auf, was er über Pitt und Austwick gesagt hatte, und sie verstand, warum er eigens gekommen war, um sie über die veränderte Situation zu unterrichten.
Ihr war bewusst, dass er sie beobachtete.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Ihr war klar, wofür er gleichsam um Entschuldigung bat. Er hatte dazu beigetragen, dass Pitt in der Dienststelle unbeliebt war, indem er ihn den anderen Mitarbeitern vorgezogen und ihm Aufgaben übertragen hatte, die er ihnen nicht zutraute. Jetzt, da Narraway nicht mehr seine schützende Hand über ihn halten konnte, würde er verwundbar sein. Er hatte nie einen anderen Beruf als den eines Polizeibeamten und danach den eines Beamten im Sicherheitsdienstes ausgeübt. Bei der Polizei hatte man ihn aus seiner Position gedrängt, nachdem er einen langen und durchaus erfolgreichen Kampf gegen den Inneren Kreis geführt hatte, Männer, die hohe Machtpositionen
bekleideten – dorthin konnte er also nicht zurück. In jener verzweifelten Situation, in der Pitt dringend darauf angewiesen war, für seine Familie und sich Geld zu verdienen, hatte Narraway ihn eingestellt. Sofern man ihn jetzt aus dem Sicherheitsdienst entließ, wohin könnte er sich da wenden? In keinem Beruf, der ihm ein vergleichbares Auskommen bot, würden ihm seine ganz speziellen Fähigkeiten und Kenntnisse von Nutzen sein.
Sie würden das Haus in der Keppel Street und alle damit verbundenen Annehmlichkeiten aufgeben müssen. Über Mrs Waterman würde sich Charlotte künftig mit Sicherheit nicht mehr zu ärgern brauchen, da sie genötigt sein würde, ihre Fußböden eigenhändig zu schrubben, wenn nicht gar auch noch die anderer Leute. Das würde Pitt noch härter ankommen als sie selbst. Sie konnte sich die Scham auf seinem Gesicht schon vorstellen, die er empfinden würde, weil er nicht in der Lage war, für sie zu sorgen, ihr nicht einmal mehr die bescheidene Behaglichkeit eines eigenen Heims bieten konnte, ganz zu schweigen von dem Luxus, in dem sie aufgewachsen war.
Sie hob den Blick zu Narraway und fragte sich, wie es ihm ergehen mochte. Bisher hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht, ob er auf sein Gehalt angewiesen war oder nicht. Seine Art zu sprechen und sich zu geben, die nahezu gleichgültige Eleganz seiner Kleidung wiesen auf eine Herkunft aus einer gehobenen Gesellschaftsschicht hin, was aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit Reichtum war. Nicht einmal alle nachgeborenen Söhne des Hochadels waren finanziell besonders gut gestellt.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie und merkte sogleich, dass er diese Frage als aufdringlich und schmerzlich empfinden konnte. Sicherlich hatte sie kein Anrecht auf eine Antwort. Sie spürte, wie es ihr heiß in die Wangen stieg. Wäre es
gut, ihn um Entschuldigung zu bitten, oder würde sie die Sache damit nur verschlimmern?
»Es entspricht ganz Ihrem Wesen«, gab er freundlich zurück, »sich um mich Sorgen zu machen und gleichzeitig anzunehmen, dass es etwas zu tun gibt.«
Jetzt kam sie sich töricht vor. »Gibt es denn nichts, was man tun könnte?«
Er zögerte. Das Schweigen zwischen ihnen war mit allerlei Erinnerungen und Empfindungen angefüllt. Noch vor drei Tagen war er Pitts mit großer Machtfülle ausgestatteter Vorgesetzter gewesen, und jetzt war von dieser Macht nichts mehr übrig. Ganz davon abgesehen, würde er möglicherweise in einigen Wochen auch kein Einkommen mehr beziehen.
Hatte er Freunde, Menschen, an die er sich wenden konnte, oder würde es ihm sein Stolz verbieten, das zu tun? Sie kannte ihn zwar, seit Pitt in den Sicherheitsdienst eingetreten war, merkte jetzt aber deutlich, wie sehr diese Bekanntschaft an der Oberfläche geblieben war. Wie sah seine Vergangenheit aus, sein Leben außerhalb des Dienstes? Unter Umständen gab es da nicht viel.
Sie wusste, dass sich Pitt beim letzten im Auftrag des Sicherheitsdienstes abgeschlossenen Fall die Feindschaft des Prinzen von Wales zugezogen hatte. Erstreckte sie sich auch auf Narraway? Während
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