Der Verräter von Westminster
keinen Laut, außer einem gelegentlichen leisen Knistern des Feuers. Von Zeit zu Zeit nahm sie von dem Stapel, der neben ihr lag, ein weiteres Teil zur Hand, das geflickt werden musste – Kissenbezüge, eine Schürze Jemimas –, doch meistens sah sie einfach ins Kaminfeuer. Zwar fehlte ihr Pitt, aber sie verstand, dass es nötig gewesen war, den Übeltäter, hinter dem er her war, bis nach Frankreich zu verfolgen. Auch ihr früheres Dienstmädchen Gracie fehlte ihr. Sie hatte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr gut zehn Jahre bei ihnen im Hause gelebt, war aber inzwischen mit Polizeiwachtmeister Tellman verheiratet, Pitts früherem Untergebenen, der jahrelang unentwegt um sie geworben hatte.
Charlotte nahm die Schürze zur Hand und nähte den aufgegangenen Saum nach, wobei sie kaum hinsah. Immer wieder stieß die Nadel mit leisem Klicken gegen den Fingerhut. Jemima war inzwischen dreizehn Jahre alt und wuchs so rasch, dass man in ihr schon die junge Frau erahnen konnte, die sie bald sein würde. Der knapp drei Jahre jüngere Daniel bemühte sich nach Kräften, die Schwester rasch einzuholen.
Charlotte musste lächeln, als sie an Gracie dachte, wie sie stolz an Pitts Arm in ihrem weißen Hochzeitskleid durch den Mittelgang der Kirche schritt. Tellman hatte mit unübersehbarer Nervosität am Altar gewartet und vor Glück gestrahlt, als sich Gracie vom Arm ihres Brautführers löste. Er musste wohl befürchtet haben, dass er den Tag nie erleben würde.
Was Charlotte vor allem fehlte, war Gracies Munterkeit, ihre völlige Offenheit, die stets lebensbejahende Haltung und der Mut. Nie hatte sich Gracie durch irgendetwas unterkriegen lassen. Ihre Nachfolgerin, Mrs Waterman, eine mürrische Frau in mittleren Jahren, war zwar eine ehrliche Haut und sorgte dafür, dass alles im Hause blitzblank war, schien aber nur glücklich zu sein, wenn sie über etwas jammern konnte. Charlotte hoffte inständig, sie würde sich im Laufe der Zeit fangen und besser fühlen.
Als es unvermittelt an der Wohnzimmertür klopfte, fuhr sie zusammen. Sie hatte wohl die Klingel an der Haustür überhört, denn Mrs Waterman kam mit missmutig verzogenem Gesicht herein und sagte: »Da is’ ’n Herr, Ma’am. Soll ich ’m sag’n, dass Mr Pitt nich’ zu Hause is’?«
Charlotte war verblüfft, und ihr erster Gedanke war, diese Anregung aufzunehmen. Dann meldete sich ihre Neugier. Um diese Tageszeit konnte es sich nur um jemanden handeln, den sie kannte.
»Wer ist denn da, Mrs Waterman?«
»Einer, der ziemlich finster aussieht, Ma’am. Er sagt, er heißt Narraway«, gab sie Auskunft. Dabei senkte sie die Stimme, sei es aus Widerwillen, sei es, um Vertraulichkeit anzudeuten. Vermutlich Ersteres.
»Führen Sie den Herrn herein«, sagte Charlotte rasch und legte den Stapel mit Flickarbeiten auf einen Stuhl hinter dem Sofa, wo man ihn nicht sehen konnte. Mechanisch strich sie sich den Rock glatt und musterte ihre ziemlich lockere Frisur
im Spiegel, um zu sehen, ob keine Strähnen hervorstanden. Ihr mahagonifarbenes Haar ließ sich nur schwer bändigen, und da ihr die Haarnadeln im Laufe des Tages lästig wurden, zog sie sie nacheinander heraus, was nicht ohne Folgen blieb.
Mrs Waterman zögerte.
»Führen Sie den Herrn bitte herein«, wiederholte Charlotte mit etwas schärferer Stimme.
»Ich bin in der Küche, falls Se mich brauch’n«, sagte die Haushälterin und verzog dabei den Mund zu etwas, was mit Sicherheit nicht als Lächeln gemeint war. Sie verschwand, und bald darauf trat Narraway ein. Drei Tage zuvor war er Charlotte müde und besorgt erschienen, was allerdings bei ihm nichts Ungewöhnliches war. Jetzt hingegen sah er abgespannt aus, die Augen in seinem schmalen Gesicht lagen tief in ihren Höhlen, und seine Haut schien alle Farbe verloren zu haben.
Bei diesem Anblick befiel Charlotte eine so entsetzliche Angst, dass es ihr den Atem nahm. Bestimmt war er gekommen, ihr zu berichten, dass Pitt etwas zugestoßen war. Alles in ihr wehrte sich dagegen, sich vorzustellen, was er sagen würde.
»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie so spät störe«, begann er. Zwar klang seine Stimme beinahe wie immer, doch hörte sie an dem leichten Zittern darin, welche Mühe es ihn kostete, sie zu beherrschen. Seine Augen waren so dunkel, dass sie im Schein der Lampe schwarz wirkten, doch sonderbarerweise konnte sie den Ausdruck darin mühelos deuten. Er war offenkundig tief verletzt, und in ihm erkannte sie eine Leere, die drei Tage zuvor
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