Der Verräter von Westminster
einstweilen. Vielleicht war es besser, diese Dinge eines nach dem anderen anzusprechen. Es gab
keinen Grund, die beiden zu beunruhigen, solange sie niemanden gefunden hatte, der sich um sie kümmern konnte. »Aber da sie von sich aus gegangen ist, spielt das jetzt keine Rolle mehr. Würdest du mir bitte die Butter reichen, Daniel?«
Er gab sie ihr. »Und was passiert jetzt mit Mr Narraway? Hilft Papa ihm?«
»Das kann er nicht«, gab ihm Jemima zu verstehen. »Er ist doch in Frankreich.« Sie sah fragend zu ihrer Mutter hin, in der Hoffnung, dass diese sie unterstützte, wenn sie Recht hatte.
»Wer dann?«, ließ Daniel nicht locker.
Charlotte holte tief Luft. »Ich, wenn mir etwas einfällt, was ich tun kann. Jetzt frühstückt bitte zu Ende, damit ich euch verabschieden und danach anfangen kann, mich um einen Ersatz für Mrs Waterman zu kümmern.«
Doch als sie sich eine Schürze umgebunden hatte und sich vor den Herd kniete, um die Asche auszuräumen und alles für ein frisches Feuer vorzubereiten, das sie nach ihrer Rückkehr entzünden würde, kam ihr die Aufgabe, eine neue Haushaltshilfe zu finden, nicht annähernd so einfach vor, wie sie das Daniel und Jemima gegenüber hingestellt hatte. Sie wollte nicht nur eine Hausangestellte haben, die kochte und putzte, sondern eine absolut zuverlässige und umgängliche Frau, die wusste, was zu tun war, mit wem man Verbindung aufnehmen musste, wenn die Situation es erforderte, und die das auch tun würde.
Wen könnten die Kinder um Hilfe bitten, wenn sie in Irland wäre? War es überhaupt richtig, dorthin zu reisen? Was war vorrangig? Sollte sie die neue Kraft, vorausgesetzt, sie fand eine, bitten, Großtante Vespasia anzurufen, falls sie Hilfe brauchte? Genau genommen waren sie nicht miteinander verwandt, denn Vespasia war die Großtante von Emilys erstem Mann Lord Ashworth gewesen, doch hatte sich schon bald ein tiefes Vertrauensverhältnis zwischen ihnen entwickelt. Trotz
ihrer deutlich mehr als achtzig Jahre, die man ihr nicht ansah, nahm sie nach wie vor aktiv am Leben der obersten Gesellschaftskreise teil, in denen man sie stets als richtungsweisend anerkannt hatte. Mit ihrem Mut, ihrer Leidenschaftlichkeit und Energie konnte sie noch so manche Dreißigjährige beschämen. Zwar hatte sich ihre große Schönheit verändert, aber nicht verringert. Sicher war sie der geeignete Mensch, Entscheidungen zu treffen, falls eins der Kinder krank würde – aber wäre sie es auch dann, wenn es Schwierigkeiten im Haushalt gab, beispielsweise, wenn ein Abfluss verstopft war, ein Wasserhahn tropfte, der Kohlevorrat zur Neige ging, der Ruß im Schornstein Feuer fing und so weiter?
Bei Widrigkeiten solcher Art hatte sich Gracie stets der Situation gewachsen gezeigt.
Charlotte erhob sich, wusch sich die Hände in nahezu kaltem Wasser und nahm die Schürze ab. Das war es: sie würde Gracie um Rat fragen. Es war mehr oder weniger ein Akt der Verzweiflung, ihr junges Glück so früh zu stören, aber es handelte sich ja auch um eine verzweifelte Situation. Gebe der Himmel, dass Gracie zu Hause war.
Es war keine sehr lange Fahrt mit dem Pferdeomnibus zu dem kleinen Haus aus rotem Ziegelstein, dessen ganzes Erdgeschoss Gracie und Tellman für sich hatten, so dass sie auch den Vorgarten nutzen konnten. Für ein so junges Paar war das durchaus beachtlich, allerdings war Tellman auch zwölf Jahre älter als Gracie und hatte sich seine Beförderung zum Polizeiwachtmeister hart erarbeitet. Pitt bedauerte nach wie vor, sich nicht mehr auf seine Dienste stützen zu können.
Mit angehaltenem Atem klopfte Charlotte an die Haustür. Falls Gracie nicht zu Hause war, wüsste sie nicht, an wen sie sich als Nächstes wenden sollte.
Doch die Tür öffnete sich, und Gracie stand vor ihr. Sie trug ihre eleganten Schnürschuhe und endlich ein Kleid, das
nicht von einer anderen Frau abgelegt worden und für sie passend gemacht worden war. Es war nicht nötig, sie zu fragen, ob sie glücklich sei – es stand ihr in das strahlende Gesicht geschrieben.
»Mrs Pitt! Se sind gekomm’n, um mich zu besuch’n! Samuel is’ nich’ da, der is’ schon zur Arbeit, aber komm’ Se doch rein, ich mach uns ’ne Tasse Tee.« Sie öffnete die Tür, so weit es ging, und trat einen Schritt zurück.
Charlotte nahm die Einladung an und zwang sich, erst einmal an Gracies neues Heim, ihren Stolz und ihr Glück zu denken, statt mit ihrem Anliegen herauszuplatzen. Durch den Gang, dessen Linoleumboden auf
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