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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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konnte. Allerdings kann ich Ihnen angesichts meiner gegenwärtigen Lage keine Vorwürfe machen, wenn Sie meine diesbezüglichen Fähigkeiten anzweifeln.«
    »Das klingt wie Selbstmitleid«, sagte sie mit Schärfe in der Stimme. »Ich habe keine Kritik an Ihnen geübt, und das weder, weil sich das so gehört, noch aus Mitgefühl. Wir können uns keine dieser beiden Haltungen leisten, sofern sie die Wahrheit verhüllen. Wir sind darauf angewiesen, einander bedingungslos zu trauen. Das Vergehen besteht im Verrat, nicht im Verratenwerden.«
    »Wirklich gut, dass Sie keinen Mann aus den höheren Kreisen geheiratet haben«, gab er zurück. »Sie hätten das nicht überlebt – vielleicht aber hätte es auch die feine Gesellschaft nicht
überlebt, und das wäre gar nicht mal schlecht. Eine kleine Erschütterung der Grundfesten von Zeit zu Zeit kann ganz heilsam sein.«
    Sie war nicht sicher, ob er über sie spottete, sich verteidigte oder beides.
    »Sie haben also meine Unterstützung akzeptiert, weil Sie überzeugt sind, dass ich imstande bin zu tun, was Sie von mir erwarten«, schloss sie.
    »Aber nein. Ich habe es getan, weil Sie so darauf bestanden haben. Ganz davon abgesehen hatte ich ohnehin keine Wahl, da Stoker der einzige andere Mensch ist, dem ich traue, und er hat sich nicht dazu erbötig gemacht.«
    »Touchée«, sagte sie gelassen.
    Sie schwiegen eine ganze Weile, und als sie das Gespräch wieder aufnahmen, drehte es sich um Unterschiede zwischen der feinen Gesellschaft in London und in Dublin. Er schilderte ihr das Leben in der irischen Hauptstadt und deren Umland, Patronatsfeste, Festspiele und andere Gelegenheiten, bei denen die Iren feierten, mit so großer Lebhaftigkeit, dass sie sich zu freuen begann, all das bald mit eigenen Augen sehen zu dürfen.
    In Holyhead stiegen sie auf die Fähre um und suchten nach einer kurzen Mahlzeit ihre Kabinen auf. Zwar würde die Fähre schon vor Morgengrauen in Kingstown, dem Hafen von Dublin, anlegen, doch brauchten die Passagiere nicht sogleich an Land zu gehen, sondern durften ausschlafen und in Ruhe frühstücken.
     
    Nach der Ausschiffung in Kingstown konzentrierte sich Charlotte so sehr darauf, weder Narraway noch den Gepäckträger aus den Augen zu verlieren, dass sie nicht dazu kam, ihre Umgebung zur Kenntnis zu nehmen. Bei der Fahrt in die Stadt, die gerade erwachte, sah sie, wie sich die vom Regen
sauber gewaschenen Straßen nach und nach mit Menschen füllten, die ihren Verrichtungen nachgingen. Eine große Zahl von Pferdefuhrwerken war unterwegs – um diese Tageszeit hauptsächlich solche von Händlern und Gewerbetreibenden. Kutschen und Einspänner würden erst später dazukommen. Die wenigen Frauen auf der Straße waren Dienstmädchen, die Einkäufe machten, Wäscherinnen oder Fabrikarbeiterinnen in dicken Röcken und wollenen Umschlagtüchern. All das war mehr oder weniger so wie auch in London um diese Tageszeit. Auf die von Narraway angekündigten deutlichen Unterschiede zwischen Dublin und London würde sie wohl noch warten müssen.
    Er schien ziemlich genau zu wissen, in welchem Teil der Stadt er eine Unterkunft für sie beide suchen wollte, denn er hatte dem Droschkenkutscher exakte Anweisungen gegeben, ohne ihr Näheres zu sagen. Während er hinaussah, beobachtete sie sein Gesicht, auf dem im scharfen Licht des frühen Morgens noch die kleinsten Fältchen um Mund und Augen zu sehen waren. Das ließ ihn älter und weit weniger selbstsicher erscheinen als sonst.
    Sie fragte sich, woran er sich wohl erinnern mochte, während er den Blick durch die ihm sicherlich vertrauten Straßen gleiten ließ. Ein wie großer Teil der Leidenschaft oder des Kummers in seinem Leben mochte sich hier abgespielt haben? Sie war froh, das nicht zu wissen, und schon der bloße Gedanke daran kam ihr vor wie ein unerlaubtes Eindringen in seine Privatsphäre. Es wäre ihr recht, das nie zu erfahren.
    Sie musste an Daniel und Jemima denken und hoffte, dass Minnie Maude gut mit allem zurechtkam. Es hatte so ausgesehen, als ob die Kinder sie gut leiden könnten. Zweifellos war die junge Frau ihrer Aufgabe gewachsen, sonst hätte Gracie sie kaum empfohlen. So sehr sie Gracie ihr Glück gönnte, so sehr fehlte sie ihr bei Gelegenheiten wie dieser.

    Gleich darauf verbot sie sich diesen lachhaften Gedanken. Eine Zeit wie diese hatte es nie zuvor gegeben. Alle früheren Fälle und Abenteuer hatten sich in London oder in der näheren Umgebung der Stadt abgespielt, hier aber fuhr sie

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