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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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war, doch dann fiel es ihr ein, und sie stand so rasch auf, dass sie dabei die Decke vom Bett herunterzog.
    »Wer ist da?«, fragte sie.

    »Victor«, sagte er leise. Immerhin war es möglich, dass Mrs Hogan besonders feine Ohren hatte, und er wollte auf jeden Fall die Täuschung aufrechterhalten, dass es sich bei ihnen beiden um Halbgeschwister handelte.
    »Ach je.« Sie sah an sich herab, wie sie im Unterrock dastand. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie. Zwar konnte sie unmöglich binnen kürzester Zeit ihre Haare wieder ordentlich feststecken, aber auf jeden Fall musste sie sich vollständig anziehen. Mit einem Mal war sie wegen ihres Aussehens befangen. Sie schlüpfte rasch in Rock und Bluse, warf sich dann die Kostümjacke über, knöpfte sie in der Eile falsch zu und musste wieder von vorn anfangen. Sicherlich fragte er sich, während er auf dem Gang vor dem Zimmer wartete, warum sie so lange brauchen mochte.
    »Ich komme gleich«, sagte sie, fuhr sich rasch mit der Bürste über die Haare und öffnete dann die Tür.
    Trotz seiner Erschöpfung musterte er sie mit einem belustigten Lächeln. Möglicherweise lag darin auch eine Anerkennung ihrer Weiblichkeit, die sie lieber nicht zur Kenntnis nahm. Sie war keine ausgesprochene Schönheit – jedenfalls nicht im landläufigen Sinne –, aber eine bemerkenswert gut aussehende Frau mit vollem Haar, glatter weicher Haut und ausgeprägten weiblichen Formen.
    »Du bist heute zu einer Abendgesellschaft eingeladen«, sagte er, kaum dass er ins Zimmer getreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Und zwar im Haus von John und Bridget Tyrone, mit denen ich noch nicht zusammenzutreffen wage. Mein Freund Fiachra McDaid begleitet dich. Ich kenne ihn schon lange, und er wird dich mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln. Gehst du bitte hin?«
    »Selbstverständlich«, sagte sie sogleich, sowohl, um sich festzulegen, bevor ihre Vorsicht sie mahnte, es lieber nicht zu tun, als auch, um ihn zu beruhigen. »Erzähl mir etwas über
diesen McDaid und das Ehepaar Tyrone. Je mehr ich weiß, desto besser. Was ist ihnen von dir bekannt? Wird es sie erstaunen, dass du plötzlich mit einer Halbschwester auftauchst?« Ein flüchtiges Lächeln trat auf ihre Züge. »Die noch dazu ferne Verwandte in Irland aufsuchen möchte. Und wie gut kennen wir beide einander schon? Ist mir deine Tätigkeit für den Sicherheitsdienst bekannt? Vermutlich sollten wir uns darauf einigen, dass wir in getrennten Familien aufgewachsen sind, denn wir wissen zu wenig voneinander. Der kleinste Fehler könnte Argwohn wecken.«
    Die Hände in den Taschen, lehnte er am Türrahmen. Er sah völlig entspannt aus, völlig anders als der, den sie bisher ausschließlich im Zusammenhang mit seinen Berufspflichten kennengelernt hatte. Sie stellte sich flüchtig vor, wie er vor zwanzig Jahren gewesen sein musste: ein kluger Mann, der niemanden nah an sich heranließ und dessen Gefühle man nicht recht einschätzen konnte. Allerdings fühlten sich manche Frauen gerade davon unwiderstehlich angezogen. Sie selbst hatte mehrere von dieser Art Frau kennengelernt, die sich davon weit mehr verlocken ließen als von der Aussicht auf eine gute Heirat – einen Mann mit einem Adelstitel oder viel Geld.
    Während sie auf seine Antwort wartete, war sie sich ihres Reisekostüms und ihres unfrisierten Haares bewusst.
    »Mein Vater hat deine Mutter geheiratet, nachdem die meine gestorben war«, begann er.
    Sie hörte aufmerksam zu, um sich genau einzuprägen, was er sagte, damit sie beide jederzeit dieselbe Geschichte erzählen konnten.
    »Als du geboren wurdest«, fuhr er fort, »habe ich schon in Cambridge studiert. Deshalb wissen wir so wenig voneinander. Mein Vater stammt aus Buckinghamshire, kann aber ohne weiteres nach London gezogen sein, so dass du einfach sagen kannst, wo du aufgewachsen bist und wo du dich auskennst.
Man sollte immer möglichst nah an der Wahrheit bleiben. Ich kenne die Gegend und habe euch von Zeit zu Zeit besucht.«
    »Was hat er gemacht – ich meine, unser Vater?«, fragte sie. Das Ganze war so unwirklich und geradezu lächerlich, aber ihr war klar, dass es wichtig war und von entscheidender Bedeutung sein konnte.
    »Er hatte Grundbesitz in Buckinghamshire und hat in jungen Jahren bei der Kolonialarmee in Indien gedient. Ich habe ihn nicht besonders gut gekannt, du brauchst also auch nicht mehr über ihn zu wissen.«
    Sie hörte den Ton des Bedauerns in seiner Stimme, einen gewissen Zorn über

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