Der Verräter von Westminster
solche, in denen sie vom unausbleiblichen Fehlschlag ihres ganz und gar verantwortungslosen Unternehmens überzeugt war. Solche Augenblicke galt es mit möglichst viel Seelenstärke und möglichst wenig Jammern zu ertragen. Auf jeden Fall musste sie bedenken, dass man seine und nicht ihre berufliche Existenz zugrunde gerichtet hatte und er derjenige war, der letztlich die Konsequenzen auf sich nehmen musste. Er war derjenige, den man der Veruntreuung von Geldern und des Verrats beschuldigte – gegen sie würde niemand solche Vorwürfe erheben.
Aber natürlich bestand eine große Wahrscheinlichkeit, dass man Pitt mit in die Sache hineinziehen würde.
»Danke«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln und sah dann zu dem Haus hin. »Es sieht sehr angenehm aus.«
Nach kurzem Zögern ging er etwas zuversichtlicher vor ihr auf die Haustür zu. Als die Pensionswirtin öffnete, stellte er ihr
Charlotte als seine Halbschwester Mrs Pitt vor, die nach Irland gekommen war, um Verwandte mütterlicherseits zu besuchen.
»Guten Tag, Ma’am«, sagte Mrs Hogan mit munterer Stimme. »Willkommen in Dublin. Es ist eine schöne Stadt.«
»Danke, Mrs Hogan. Ich freue mich schon richtig darauf«, gab Charlotte zurück.
Narraway verließ die Pension nahezu augenblicklich. Charlotte begann ihren Koffer auszupacken und die Falten der wenigen Kleidungsstücke zu glätten, die sie mitgebracht hatte. Nur ein Kleid eignete sich für formelle Anlässe, aber sie hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, die Gewohnheit der bekannten Schauspielerin Lillie Langtry zu übernehmen und es bei jedem Anlass mit anderen Accessoires zu verändern. Um die Aufmerksamkeit der Menschen davon abzulenken, dass es sich jedesmal um ein und dasselbe Kleid handelte, hatte sie Ohrringe, eine Halskette aus Hämatit und Bergkristall sowie eine schwarze und eine weiße Spitzenmantille mitgebracht. Immerhin saß das Kleid bemerkenswert gut. Frauen würden zweifellos trotzdem merken, dass sie bei jeder Gelegenheit dasselbe Kleid trug, aber mit etwas Glück würden Männer lediglich sehen, dass sie gut darin aussah.
Während sie es ebenso wie das Kostüm mit zwei Röcken und ein Kleid aus dünnerem Stoff in den Schrank hängte, musste sie unwillkürlich an die Zeit denken, als Pitt noch bei der Polizei war und sie zusammen mit ihrer Schwester Emily versucht hatte, ihm bei seinen Ermittlungen zu helfen, insbesondere dann, wenn die Verbrechensopfer den gehobenen Schichten der Gesellschaft angehörten, in denen sie und Emily ungehindert verkehren konnten, während dem Polizeibeamten Pitt Einblick lediglich als Außenstehendem gewährt wurde – und so jemandem gegenüber verhielten sich die Menschen unnatürlich und mit äußerster Zurückhaltung.
Diese Verbrechen waren jeweils das Ergebnis menschlicher Leidenschaft und gelegentlich gesellschaftlicher Unbill gewesen, aber nie mit Staatsgeheimnissen verbunden. Für Pitt hatte es keinen Grund gegeben, nicht offen mit ihr darüber zu sprechen und ihre Kenntnisse von den Zusammenhängen und den Verhaltensweisen der Angehörigen jener Gesellschaftsschicht nicht zu nutzen, die sich so sehr von der seinen unterschied, dass er nicht ohne weiteres zu erfassen vermochte, wie er einzuschätzen hatte, was sie taten und sagten. Ganz besonders galt das natürlich für die Damen der Gesellschaft.
Fast immer war es um eine menschliche Tragödie gegangen, und bisweilen war es dabei zu gefährlichen Situationen gekommen. Charlotte hatte häufig Zorn über Ungerechtigkeiten empfunden und Mitgefühl für Menschen aufgebracht, deren Handlungsweise auf einer Gefühlsverwirrung beruhte. Dennoch hatte sie dies Abenteuer, an dem Kopf und Herz gleichermaßen beteiligt waren, sehr geschätzt, zumal es dabei um eine Sache gegangen war, für die zu kämpfen sich lohnte. Sie hatte sich dabei nie gelangweilt und auch nie die innere Leere empfunden, die sich einstellte, wenn man im Leben kein Ziel hatte, an das man unverbrüchlich glaubte.
Sie verteilte ihre Toilettenartikel auf der Frisierkommode und der Ablage des freundlichen Badezimmers, das sie sich mit einem anderen weiblichen Pensionsgast teilte. Dann zog sie Rock und Bluse aus, nahm die Haarnadeln heraus und legte sich im Unterrock auf das Bett.
Als es an der Tür klopfte, fuhr sie hoch. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Verwirrt sah sie die Möbel, die Gaslampen an den Wänden und die Fenster an – nichts davon war ihr vertraut. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie
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