Der Verräter von Westminster
das, was ihm in der Jugend entgangen sein mochte, doch das war rasch verflogen. »Er ist schon länger tot. Was deine Mutter betrifft, kannst du dich an die Wahrheit halten. Du und ich haben einander erst kürzlich näher kennengelernt und wollen unsere Bekanntschaft auf dieser Reise vertiefen.« Ein undeutbarer Ausdruck trat in seine Augen und verschwand wieder.
»Aber warum ausgerechnet Irland?«, fragte sie. »Danach wird man mich doch bestimmt fragen.«
»Meine Mutter war Irin«, gab er zurück.
»Tatsächlich?«, fragte sie überrascht, da er es zuvor abgestritten hatte, irischer Abkunft zu sein. Er hatte ihr doch gesagt, eine seiner Urgroßmütter sei Irin gewesen.
»Natürlich nicht«, fuhr er mit breitem Lächeln fort, »aber sie lebt nicht mehr und wird sich nicht beschweren.«
Sie empfand ein sonderbares Mitgefühl und begriff seine große Einsamkeit.
»Ich verstehe«, sagte sie ruhig. »Und was ist mit den Verwandten, die ich suche? Wieso bleibe ich einfach hier in Dublin, ohne etwas zu unternehmen, um sie zu finden? Warum suche ich sie überhaupt?«
»Vielleicht solltest du diesen Punkt besser streichen«, gab er zurück. »Du willst einfach Dublin kennenlernen. Ich habe dir so viel darüber berichtet, und wir haben uns diesen Vorwand ausgedacht, um einen Grund für die Reise hierher zu haben. Die Leute sind sicher gern bereit, das zu glauben, denn es wird ihnen schmeicheln. Dublin ist eine herrliche Stadt und von einzigartigem Zauber.«
Sie erhob keine Einwände, hatte aber das Gefühl, dass sie nicht weiterkommen würden, wenn sie keine Fragen stellte. Höfliches Interesse ließ sich einfach beiseite wischen und erforderte nicht mehr als ebenso höfliche wie unergiebige Antworten.
Charlotte nahm ihren Umhang, und sie verließen Mrs Hogans Haus, um in der angenehmen Atmosphäre des Frühlingsabends den knappen Kilometer bis zum Anwesen von Fiachra McDaid zu Fuß und schweigend zurückzulegen.
Narraway klopfte an die mit Schnitzereien verzierte Mahagonitür, die ein eleganter Mann in einem dunkelgrünen Samtjackett nahezu sogleich öffnete. Er war ziemlich groß und um die Leibesmitte herum recht rundlich. Im Schein der Lampe an der Haustür wirkten seine Züge trübsinnig, doch sobald er Narraway erkannte, leuchtete sein Gesicht in einer Weise auf, die ihn auf verblüffende Weise anziehend erscheinen ließ. Sein Alter ließ sich nur schwer schätzen, aber da sein schwarzes Haar an den Schläfen weiße Strähnen aufwies, nahm Charlotte an, dass er an die fünfzig sein musste.
»Victor!«, sagte er munter und ergriff Narraways Hand, um sie kräftig zu schütteln. »Das Telefon ist zwar eine großartige Erfindung, lässt aber gegenüber einer persönlichen Begegnung viel zu wünschen übrig.« Er wandte sich Charlotte zu. »Und Sie sind bestimmt Mrs Pitt, die zum ersten Mal die Königin unserer Städte besucht. Ich heiße Sie willkommen. Es wird
mir ein Vergnügen sein, Ihnen einen Teil von ihr zu zeigen. Ich suche das Beste für Sie heraus, denn die Zeit ist zu knapp, um alles zu genießen. Dafür würde Ihr ganzes Leben nicht ausreichen. Treten Sie näher, wir wollen einen Schluck trinken, bevor wir aufbrechen.« Er hielt die Tür weit auf, und nach einem Blick auf Narraway nahm Charlotte die Einladung an.
Die Räume waren elegant eingerichtet, ganz im Stil des frühen 19. Jahrhunderts. So hätte es ohne weiteres auch in einer guten Wohngegend Londons aussehen können, vielleicht mit Ausnahme einiger der Bilder an den Wänden und der eigenartigen silbernen Pokale auf dem Kaminsims. Sie fand die kleinen Unterschiede interessant und hätte gern alles genauer in Augenschein genommen, doch wäre ein solches Verhalten unhöflich gewesen, da der Mann nicht wissen würde, ob sie die Dinge bewunderte oder kritisch beäugte.
»Sie müssen unbedingt ins Theater gehen«, fuhr Fiachra McDaid fort und sah Charlotte an. Ihr war klar, dass er sie aufmerksam musterte, obwohl er sich bemühte, das beiläufig aussehen zu lassen.
Er bot ihr ein Glas Sherry an, an dem sie lediglich nippte. Sie hatte nur wenig gegessen und musste einen klaren Kopf bewahren.
»Natürlich«, gab sie mit einem Lächeln zurück. »Die anderen Damen in London würden mich sicherlich sonderbar ansehen, wenn ich in Dublin gewesen wäre, ohne ins Theater zu gehen.« Nicht ohne Befriedigung sah sie einen Augenblick Verwirrung in seinen Augen. Es war eine unbedeutende Bemerkung gewesen, wie eine Frau sie wohl machte, der mehr daran
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