Der Verräter von Westminster
auf ihre Antwort.
Charlottes Großmutter hatte Christine Owen geheißen, und so sagte sie mit der gleichen Gelassenheit, die sie empfunden hätte, wenn sie in einen Wildwasserfluss hätte springen müssen: »Christina O’Neil.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Ihr kam der entsetzliche Gedanke, dass es möglicherweise einen Menschen dieses Namens gab, den diese Leute kannten. Wie um Himmels willen würde sie aus der Sache herauskommen, falls es sich so verhielt?
»O’Neil«, wiederholte Bridget. »Hier in der Gegend gibt es viele O’Neils. Bestimmt werden Sie jemanden finden, der sie gekannt hat, außer natürlich, wenn die Leute das Land während der großen Hungersnot verlassen haben. Gott allein weiß, wie viele das gewesen sein mögen. Kommen Sie, ich möchte Sie unseren anderen Gästen vorstellen.«
Charlotte begleitete sie folgsam und wurde einem der Paare nach dem anderen vorgestellt. Sie gab sich Mühe, sich ihr unbekannte Namen einzuprägen, etwas halbwegs Intelligentes zu
sagen und gleichzeitig einen Überblick zu gewinnen, um festzustellen, wen der Anwesenden sie möglicherweise näher kennenlernen sollte. Sie musste Narraway mehr berichten können, als dass sie Zutritt zur Dubliner Gesellschaft erlangt hatte, denn sonst konnte es ohne weiteres ein halbes Jahr dauern, bis sie an Informationen kam, die es ihnen ermöglichten festzustellen, wer ihn ans Messer geliefert hatte.
Erneut brachte sie die Sprache auf ihre erfundene Großmutter.
»Ach, tatsächlich?«, sagte Talulla Lawless überrascht und hob die schmalen schwarzen Brauen über ihren wunderbaren großen leuchtenden Augen, die zwischen Blau und Grün zu changieren schienen, kaum, dass Charlotte – die nun entschlossen war, nach dem Motto »Wenn schon, denn schon« ihr Ziel zu verfolgen – den Namen genannt hatte. »Sie scheinen sie gerngehabt zu haben«, fuhr Talulla fort. Sie war so schlank, dass sie fast knochig wirkte.
Charlotte dachte an die einzige ihrer beiden Großmütter, die sie kennengelernt und als brummig und streitsüchtig in Erinnerung hatte. »Sie hat mir herrliche Geschichten erzählt«, fantasierte sie drauflos. »Es kann gut sein, dass sie ein bisschen übertrieben waren, aber man hat in ihnen die Wahrheit des Herzens gespürt, auch wenn die Ereignisse, von denen sie berichtet hat, nicht unbedingt alle der Wirklichkeit entsprochen haben mögen.«
Talulla tauschte einen kurzen Blick mit einem blonden Mann namens Phelim O’Conor, und das so rasch, dass Charlotte es kaum mitbekam.
»Sollte ich mich irren?«, fragte Charlotte entschuldigend.
»Aber nein«, versicherte ihr Talulla. »Das liegt wohl lange zurück.«
»Ja, sicher zwanzig Jahre. Sie hat oft an einen Vetter geschrieben, vielleicht aber auch an die Frau des Vetters. Die
war auf jeden Fall wunderschön, wie meine Großmutter immer gesagt hat.« Sie versuchte rasch, sich zu überlegen, wie alt Kate O’Neil wohl gewesen wäre, wenn sie jetzt noch lebte. »Kann sein, dass es auch nur ein Vetter zweiten Grades war«, fügte sie hinzu. Damit war eine gewisse familiäre Bandbreite gegeben.
»Vor zwanzig Jahren«, sagte Phelim O’Conor gedehnt. »Damals gab es hier viel Ärger. Aber davon werden Sie in London wohl nichts mitbekommen haben. Möglicherweise hat Ihre Großmutter die Sache mit Charles Stewart Parnell, Gott sei seiner Seele gnädig, als romantisch empfunden. Das ist manchmal so mit dem Kummer anderer Menschen.« Sein Gesicht wirkte glatt, nahezu unschuldig, aber in seiner Stimme lag eine unauslotbare Schwärze.
»Entschuldigung«, sagte Charlotte. »Ich wollte an nichts Schmerzliches rühren. Hätte ich vielleicht lieber nicht fragen sollen?« Sie ließ den Blick zwischen Phelim und Talulla hin und her wandern.
Phelim zuckte kaum merklich die Achseln. »Zweifellos werden Sie ohnehin davon erfahren. Sollte die Frau Ihres Vetters Kate O’Neil gewesen sein, lebt sie nicht mehr, Gott möge ihr verzeihen …«
»Wie kannst du das sagen?«, stieß Talulla zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor. »Zwanzig Jahre sind nichts! Ein Augenzwinkern in der leidvollen Geschichte unseres Landes. «
Charlotte bemühte sich, möglichst verwirrt und zugleich schuldbewusst dreinzublicken. Tatsächlich bekam sie allmählich ein wenig Angst. Offenbar hatte Phelim mit seiner Äußerung bei Talulla einen empfindlichen Nerv getroffen, denn anders ließ sich deren unverhüllte Wut nicht erklären.
»Seither hat es neues Blut und neue Tränen gegeben«, gab
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