Der Verräter von Westminster
er, an Talulla gewandt, zurück. »Außerdem waren neue Aufgaben
zu lösen.« Er ließ den letzten Satz in der Luft hängen, als gebe es da noch mehr zu sagen.
Eigentlich hätte Charlottes gute Kinderstube verlangt, dass sie um Entschuldigung bat und sich zurückzog, damit die beiden auf ihre eigene Weise mit ihren Erinnerungen fertigwerden konnten. Doch sie dachte an Pitt, der allein in Frankreich festsaß, während es jetzt in Lisson Grove nur noch Feinde Narraways gab, die ohne weiteres auch seine Feinde sein konnten. In dieser Situation konnte sie sich den Luxus der guten Kinderstube nicht leisten.
»Gibt es da etwa eine Tragödie, von der meine Großmutter nichts wusste?«, fragte sie betont unschuldig. »Es tut mir leid, wenn ich an alte Wunden oder Ungerechtigkeiten gerührt haben sollte. Das war gewiss nicht meine Absicht. Sollte das der Fall sein, bitte ich um Entschuldigung.«
Talulla sah sie mit unverhohlener Erbarmungslosigkeit an. Ihre sonst bleichen Wangen waren leicht gerötet. »Für den Fall, dass Kate O’Neil die angeheiratete Kusine Ihrer Großmutter war, ist sie auf einen Engländer hereingefallen, der als Vertreter der Regierung der Königin hier im Lande war. Er ist um sie herumscharwenzelt und hat sie durch allerlei Schmeichelreden dazu gebracht, ihm die Geheimnisse ihres Volkes zu verraten. Anschließend hat er sie denen überlassen, deren Vertrauen sie missbraucht hatte, und die haben sie umgebracht.«
O’Conor zuckte zusammen. »Ich denke, sie hat ihn geliebt. Die Liebe kann jeden von uns zum Narren machen«, sagte er.
»Sicher!«, stieß Talulla hervor. »Aber der Schweinehund hat sie eben nicht geliebt. Das wäre ihr auch klargeworden, wenn sie nur einen Tropfen treues irisches Blut in den Adern gehabt hätte. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihm seine Geheimnisse entlockt und ihm dann ein Messer zwischen die Rippen gejagt. Schon möglich, dass er die Gabe besaß, Leuten schön zu tun, aber er war nun mal der Feind ihres Volkes, und das muss
ihr auch bewusst gewesen sein. Sie hat bekommen, was sie verdient hat.« Damit wandte sie sich schroff ab, den Kopf mit den dunklen Haaren stolz erhoben, der Rücken so steif, als hätte sie einen Ladestock verschluckt.
»Sie müssen sie entschuldigen«, sagte O’Conor betrübt. »Man könnte glauben, dass sie den Mann selbst geliebt hat, dabei ist das Ganze zwanzig Jahre her. Ich werde unbedingt daran denken müssen, nie mit ihr zu flirten, denn wenn sie auf meinen Charme hereinfiele, würde ich möglicherweise eines Tages mit einem Messer zwischen den Rippen aufwachen.« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich würde sie aber gar nicht erst darauf hereinfallen.« Er sagte nichts weiter, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände.
Mit einem Lächeln, das so plötzlich kam, wie die Sonne im Frühling den Regen vertreibt, erzählte er ihr von dem Ort, an dem er zur Welt gekommen war, und von der Kleinstadt weiter im Norden, in der er aufgewachsen war, wie auch von seiner ersten Reise nach Dublin, die er im Alter von sechs Jahren unternommen hatte.
»Ich war sicher, dass Dublin der herrlichste Ort war, den ich je gesehen hatte«, sagte er und lächelte versonnen. »Eine Straße nach der anderen voller Gebäude, von denen jedes ohne weiteres der Palast eines Königs hätte sein können. Und manche dieser Straßen waren so breit, dass es für ein Kind eine Reise zu sein schien, sie zu überqueren.«
Mit einem Mal war Talullas so unvermittelt aufgebrochener Hass nichts weiter als ein kleiner Verstoß gegen das gute Betragen und ebenso rasch vergessen, als hätte jemand versehentlich einen Gast mit dem Ellbogen angestoßen und dabei dessen Wein verschüttet.
Aber Charlotte vergaß nichts davon. O’Conors plötzliche Charmeoffensive ging ebenso sehr auf den Wunsch zurück, etwas zu verbergen, wie auf seine unverkennbare Liebe zu seiner
irischen Heimat. Charlotte war überzeugt, dass er später Talulla Vorhaltungen machen würde, weil sie einer Außenstehenden, noch dazu einer Engländerin, Einblick in einen Teil der Geschichte Irlands ermöglicht hatte, den man besser für sich behielt. Es war so, als wenn eine Familie ihre schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit wusch, so dass jeder Vorübergehende sie sehen konnte.
Die Gesellschaft nahm ihren Fortgang. Die Speisen waren köstlich, und der Wein floss in Strömen. Man lachte viel, es gab geistreiche Gespräche und im Verlauf des späteren Abends auch Musik. Über all dem aber
Weitere Kostenlose Bücher