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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gerade das zu?« Damit ließ sie offen, ob Charlotte Dublin als eine Art Sommerfrische nach den Zwängen der Londoner Gesellschaft empfand oder selbst provinziell und unkultiviert war.
    Sie erwiderte das Lächeln, ohne die geringste Wärme hineinzulegen. »Entweder war es diesen Leuten nicht ernst damit, oder aber, falls doch, ist Ihnen möglicherweise die Raffinesse Ihrer Wortwahl entgangen«, gab sie zurück. »Ich halte Sie ehrlich gesagt für alles andere als einfältig«, setzte sie noch eins drauf.
    Talulla lachte klirrend. »Sie schmeicheln uns, Mrs Pitt. Es ist doch Mrs? Ich hoffe, dass ich keinen entsetzlichen Fehler begangen habe.«
    »Machen Sie sich in dieser Hinsicht keine Sorgen, Miss Lawless«, gab Charlotte zurück. »Es ist weit von einem entsetzlichen Fehler entfernt, und wäre es einer, was nicht der Fall ist, ließe sich der ganz leicht wiedergutmachen. Es wäre wunderbar, wenn man alle Fehler so einfach aus der Welt schaffen könnte.«
    »Ach je«, heuchelte Talulla Bestürzung. »Wie viel aufregender Ihr Leben in London sein muss als unseres hier. Ich finde das faszinierend.«
    Nach kurzem Zögern entschloss sich Charlotte mitzuspielen. »Ich weiß, dass die Menschen dazu neigen, bei anderen
alles für besser zu halten als bei sich selbst. Nach dem gestrigen Theaterabend habe ich mir vorgestellt, hierzulande sei jeder Mensch von Leidenschaften und Untergangsstimmung erfüllt. Sagen Sie mir bitte nicht, dass es sich dabei lediglich um den Ausfluss der blühenden Fantasie eines Dramatikers handelt. Damit würden Sie den Ruf Irlands im Ausland ganz und gar zugrunde richten.«
    »Mir war gar nicht bekannt, dass Sie so großen Einfluss haben«, gab Talulla trocken zurück. »Da sollte ich wohl besser auf meine Worte achten.« Auf ihren Zügen mischten sich Spott und Ärger.
    Charlotte senkte den Blick zu Boden. »Anscheinend habe ich etwas Unpassendes gesagt und dabei eine empfindliche Stelle getroffen. Das tut mir leid, und ich versichere Ihnen, dass es nicht meiner Absicht entsprach.«
    »Ich habe ganz den Eindruck, dass vieles von dem, was Sie tun, unabsichtlich geschieht und anderen Schmerzen verursacht«, blaffte Talulla.
    Seide raschelte, als zwei andere Damen unbehaglich berührt herübersahen. Eine von ihnen holte Luft, als wolle sie sich dazu äußern, dann aber sah sie lediglich schweigend zu Talulla hin.
    »Ja, und bei Ihnen verhält es sich genau umgekehrt, Miss Lawless«, gab Charlotte zurück. »Ich will gern glauben, dass hinter jedem Wort, dass Sie sagen, eine bestimmte Absicht steckt.«
    Man hörte, wie eine der Damen die Luft noch schärfer einsog. Eine andere kicherte nervös.
    »Noch eine Tasse Tee, Mrs Pitt?«, erkundigte sich Dolina Pearse mit leicht zitternder Stimme. Es war unmöglich zu sagen, ob sie ein Lachen oder Tränen unterdrückte.
    Charlotte hielt ihr die Tasse hin. »Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

    »Seien Sie nicht albern«, sagte Talulla mit Schärfe. »Das ist doch bloß Tee!«
    »Die Engländer haben auf alles eine Antwort«, sagte Dolina Pearse. »Nicht wahr, Mrs Pitt?«
    »Sie würden sich wundern, was man mit Tee alles anstellen kann, wenn er heiß genug ist«, gab Charlotte zurück und sah ihr dabei in die Augen.
    »Am besten siedend heiß«, murmelte Dolina.
     
    Nach dem Abendessen erstattete Charlotte Narraway Bericht über den Verlauf der Teegesellschaft. Sie saßen allein in Mrs Hogans Salon, dessen Türen zu dem kleinen Garten hin offen standen. Der Abend war mild, und die Wolken, die am nahezu vollen Mond vorüberzogen, warfen dunkle Schatten. In wortlosem Einverständnis standen sie auf und traten in die laue Luft hinaus unter die Bäume.
    »Mehr habe ich nicht erfahren«, erklärte sie schließlich. »Außer, dass man uns nach wie vor nicht ausstehen kann. Aber wie könnten wir auch etwas anderes erwarten? Im Theater hat mir Mr McDaid etwas über O’Neil gesagt. Ich denke, es wäre an der Zeit, die Karten offen auf den Tisch zu legen – nicht, weil ich wissen möchte , was geschehen ist, sondern, weil ich es wissen muss .«
    Er schwieg lange. Sie spürte deutlich seine Nähe, wie er da halb im Schatten eines Baumes einen Schritt weit von ihr entfernt stand. Obwohl schlank und nur wenig größer als sie, vermittelte er den Eindruck von großer Körperkraft, als bestehe er ausschließlich aus Muskeln, Sehnen und Knochen und als sei alles Weiche im Laufe der Jahre von ihm abgefallen. Sie unterließ es, ihm ins Gesicht zu sehen,

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