Der Verräter von Westminster
entschieden hatte oder sich noch mehr Blusen ansehen wollte.
»Ah«, sagte sie gedehnt. »Das ist genau das Richtige für Sie, es könnte nicht herrlicher sein.«
Charlotte zögerte, während sie die gestreifte Bluse auf ihrem Bügel mit begehrlichen Augen ansah.
»Eine glänzende Wahl. Vielleicht möchten Sie sehen, welche Ihrem Mann besser gefällt?«, regte die Frau an.
Gerade als Charlotte dazu ansetzte, ihr mit vorsichtigen Worten zu erklären, dass Narraway nicht ihr Mann sei, sah sie
ihn hinter dem Rücken der Verkäuferin und erkannte die aufrichtige Bewunderung auf seinem Gesicht. Einen Augenblick lang wirkte es offen und ungeschützt. Dann musste er etwas gemerkt haben. Er sagte lächelnd: »Wir nehmen beide«, und wandte sich ab.
Wenn sie ihm nicht vor der Verkäuferin widersprechen und eine für alle peinliche Situation heraufbeschwören wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie trat in den Anproberaum zurück, schloss die Tür und zog ihre eigene Alltagsbluse wieder an.
»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte sie, kaum, dass sie den Laden verlassen hatten. »Ich habe keine Ahnung, wie ich das je wiedergutmachen könnte.«
Er blieb stehen und sah sie einen Augenblick lang an.
Als sein Ärger schlagartig dahinschwand, musste sie daran denken, wie er sie im Laden angesehen hatte, und mit einem Mal bekam sie Angst.
Er hob die Hand und berührte ihre Wange leicht mit den Fingerspitzen. Es war eine äußerst zärtliche und zugleich intime Geste.
»Indem du mir hilfst, meinen Namen von dem Makel zu befreien«, sagte er. »Das ist mehr als genug.«
Etwas dagegen zu sagen wäre sinnlos und geradezu grausam gewesen, denn damit hätte sie ihn nicht nur gekränkt, sondern überdies auch den Eindruck erweckt, als rechne sie nicht mit einem Erfolg, auf den sie doch beide so dringend angewiesen waren.
»Dann sollten wir uns besser ans Werk machen«, sagte sie, trat einen Schritt von ihm zurück und setzte sich wieder in Bewegung.
Die Gemäldeausstellung war herrlich, doch konnte sich Charlotte nicht recht auf die Bilder konzentrieren. Vermutlich würde
Dolina Pearse, die alle Maler zumindest dem Namen nach zu kennen schien und von jedem sagen konnte, für welche Maltechnik er berühmt war, sie für schrecklich unwissend halten. So hörte sie schweigend zu und machte ein Gesicht, als wisse sie die von Dolina verkündeten Weisheiten zu schätzen. Hoffentlich konnte sie sich genug davon merken, um später so darüber zu sprechen, als habe sie all das interessiert.
Während sie durch die Ausstellungsräume gingen und Bild für Bild ansahen, beobachtete Charlotte die anderen Frauen. Sie waren genauso gekleidet wie die in London. In dieser Saison verlangte die Mode Ärmel, die an den Unterarmen eng anlagen und an den Schultern breit gepufft waren, während die Röcke unten weit schwangen und ein als »Tournüre« bezeichnetes Gesäßpolster aufwiesen. Das Ganze machte einen außerordentlich weiblichen Eindruck, und die Frauen sahen aus wie voll erblühte große Blumen, wie Magnolienblüten oder Pfingstrosen. Wenn eine Gruppe von ihnen vorüberging und ihre Sonnenschirme über sich hielten, um ihr Gesicht zu schützen, wirkte das von ferne wie eine Blumenrabatte im Wind. So etwas hätte einer der Maler versuchen sollen darzustellen! Vielleicht hatte das der eine oder andere sogar getan, und sie war nur so unaufmerksam gewesen, es nicht zu merken.
Die Teegesellschaft im Hause Pearse erinnerte sie unwillkürlich an die »Morgenbesuche«, zu denen sie ihre Mutter in der Zeit vor ihrer Eheschließung begleitet hatte und die in Wahrheit stets am Nachmittag stattfanden. So gesittet sich alle der anwesenden Damen verhielten und so sehr sie jedes der ungeschriebenen Gesetze beachteten, dienten die höflichen Bemerkungen, die ausgetauscht wurden, in Wahrheit als Vorwand für Klatsch und spitze Bemerkungen.
»Wie gefällt es Ihnen bei uns in Dublin, Mrs Pitt?«, erkundigte sich Talulla Lawless höflich. »Nehmen Sie doch ein Gurkensandwich.
Die sind immer so erfrischend, finden Sie nicht auch?«
»Vielen Dank«, nahm Charlotte an. Ihr wäre gar nichts anderes übriggeblieben, selbst wenn sie Gurkensandwiches auf den Tod nicht hätte ausstehen können. »Die Stadt beeindruckt mich, und das würde wohl auch jedem anderen so gehen.«
»Ach, ich weiß nicht«, gab Talulla zurück. »Manche halten uns für ziemlich provinziell und unkultiviert.« Sie lächelte. »Aber vielleicht sagt Ihnen
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