Der Verräter von Westminster
gewesen waren, seien sie gut oder schlecht gewesen, politischer oder persönlicher Art?
Was hatte er Talulla gesagt?
War es denkbar, dass es in den letzten Monaten etwas Neues gegeben hatte? Falls ja, musste er feststellen, auf welche Weise sie es fertiggebracht hatte, das Geld von Mulhares Konto fernzuhalten und es mit Hilfe eines Verräters in Lisson Grove auf Narraways Konto zurückzuschleusen. Sie konnte das unmöglich allein bewerkstelligt haben. Wer also hatte ihr dabei geholfen?
»Wer hat Mulhare verpfiffen?«, fragte er O’Casey.
»Ich ahne es nicht«, gab dieser zurück, »aber ich würde es Ihnen auch nicht sagen, wenn ich es wüsste. Einer, der sein eigenes Volk verrät, hat verdient, dass man ihm seine dreißig Silberlinge wegnimmt und in einen Sack voll Blei steckt, ihm den um den Hals hängt und ihn dann in die Bucht von Dublin wirft.«
Narraway hatte Mulhare nicht besonders gut leiden können, aber er hielt es für ein Gebot der persönlichen Ehre, sich an Zusagen zu halten, ganz gleich, wem er sie gemacht hatte. Mit einem Wortbruch erreicht man im Krieg ebenso wenig wie mit einem zerbrochenen Schwert.
Er stand auf. Die Katze am Kaminfeuer streckte sich, drehte sich dann auf die andere Seite und rollte sich wieder zusammen.
»Danke«, sagte er.
»Kommen Sie ja nicht wieder«, knurrte O’Casey. »Ich werde nichts gegen Sie unternehmen, aber Ihnen auch bestimmt nicht unter die Arme greifen.«
»Das ist mir klar«, gab Narraway zurück.
Nach ihrer Rückkehr aus dem Theater hatte Charlotte keine Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit Narraway, und am folgenden Tag ebenso wenig. Sie trafen einander lediglich kurz zum Frühstück, aber diesmal saßen andere Pensionsgäste in Hörweite. Narraway teilte ihr mit, er habe Verschiedenes zu erledigen und von Dolina Pearse erfahren, Charlotte sei zur Eröffnung einer Kunstausstellung willkommen und anschließend bei Dolina mit deren Bekannten zu einer Teegesellschaft eingeladen. Er habe in ihrem Namen zugesagt.
»Danke«, sagte sie ein wenig distanziert.
Er lächelte. »Hättest du lieber abgelehnt?«, fragte er mit gehobenen Brauen.
Sie sah ihm ins Gesicht und erkannte die plötzlich in seinen Augen aufblitzende Belustigung wie auch die Überzeugung,
dass diese Annahme absurd sei. Es wäre äußerst töricht von ihr gewesen, jetzt auf seine Überempfindlichkeit einzugehen. Er war unmittelbar von Schande bedroht, sofern ihrer beider Unternehmen fehlschlug, und litt an einer Einsamkeit, die tiefer reichte als alles, was sie je selbst erfahren hatte.
»Nein, natürlich nicht«, gab sie mit einem Lächeln zurück. »Ich bin einfach ein bisschen nervös. Ich habe im Haus der Tyrones ein paar von den Leuten kennengelernt und bin mir nicht sicher, ob die Begegnung ausschließlich freundschaftlicher Natur war.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte er. »Aber ich kenne dich, und ich kenne auch Dolina ein wenig. Der Tee bei ihr dürfte interessant sein. Und die Bilder werden dir gefallen. Ich glaube, es sind Impressionisten.« Er stand auf. Mit seinem einwandfrei geschnittenen Jackett und seiner sorgfältig gebundenen Krawatte wirkte er ausgesprochen elegant, wie er zum Gehen bereit dastand.
»Victor!« Zum ersten Mal benutzte sie seinen Vornamen spontan.
Sie wusste kaum, wie sie beginnen sollte, doch war ihr klar, dass sie unbedingt sagen musste, was zu sagen war.
Er wartete. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Wenn ich zu der Gemäldeausstellung gehen soll, würde ich mir gern vorher eine neue Bluse kaufen.« Sie spürte, wie ihr vor Peinlichkeit die Röte ins Gesicht stieg. »Meine Mittel erlauben mir aber nicht …«
»Selbstverständlich«, sagte er rasch. » Wir gehen, sobald du mit dem Frühstück fertig bist. Vielleicht sollten wir sogar zwei kaufen. Du kannst unmöglich bei allen Gelegenheiten immer völlig gleich gekleidet auftreten. Meinst du, dass du in einer halben Stunde fertig sein kannst?« Er sah zur Kaminuhr hin.
»Um Himmels willen! In der Zeit könnte ich sogar noch Mittag essen. Es dauert höchstens zehn Minuten«, rief sie aus.
» Wirklich? Dann warte ich an der Haustür auf dich.« Er sah überrascht aus und unübersehbar zufrieden.
Schon nach knapp dreihundert Metern stießen sie auf eine Droschke, mit der sie in die Stadtmitte fahren konnten. Narraway schien genau zu wissen, wohin er wollte, und ließ den Kutscher vor einem überaus exklusiv aussehenden Geschäft für Damenmoden anhalten.
Charlotte konnte sich
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