Der Verräter von Westminster
teils, um nicht in seine Privatsphäre einzudringen, teils, weil sie den Ausdruck darauf lieber nicht sehen wollte. Das würde es ihnen beiden einfacher machen und es ihnen ermöglichen, nach der
Intimität im Modegeschäft und anschließend auf der Straße wieder einen gewissen Abstand herzustellen.
»Ich kann dir nicht alles sagen«, begann er schließlich. »Die Iren hatten einen ziemlich weitreichenden Aufstand geplant, den wir verhindern mussten.«
»Und auf welche Weise?«, fragte sie ohne Umschweife.
Wieder gab er keine Antwort. Sie fragte sich, wie weit seine Geheimnistuerei damit zusammenhing, dass er sie schützen wollte, und wie weit damit, dass er sich der Rolle schämte, die er bei der Sache gespielt hatte, ganz gleich, ob er Grund dazu hatte oder nicht.
Warum nur stand sie zitternd hier unter den Bäumen? Wovor hatte sie denn Angst? Etwa vor Victor Narraway? Sie war bisher noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass er sie verletzen könnte, sondern hatte eher die umgekehrte Befürchtung. Vielleicht war das lachhaft. Sofern er Kate O’Neil wirklich geliebt hatte und dennoch fähig gewesen war, sie seinem Land zuliebe zu opfern, würde er etwas Ähnliches bei Charlotte ohne weiteres ebenfalls fertigbringen. Es war denkbar, dass sie eins der zufälligen Opfer wurde, von denen Fiachra McDaid gesprochen hatte – ein Teil des Preises, der zu zahlen war. Sie war Pitts Gattin, und Narraway hatte auf seine Weise zu Pitt gehalten. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass er in sie verliebt war. Wie aber konnte sie nur so naiv sein anzunehmen, das werde in seinen Augen an der Sache, der er diente, auch nur das Geringste ändern?
Wie Kate O’Neil wohl ausgesehen haben mochte? Wie alt war sie gewesen? Hatte sie Narraway geliebt und damit nicht nur ihr Land verraten, sondern auch ihren Mann betrogen? Wie verzweifelt sie in dem Fall geliebt haben musste! Eigentlich hätte Charlotte sie dafür verachten müssen, doch empfand sie nichts als Mitleid und die Überzeugung, dass auch sie in eine vergleichbare Situation hätte geraten können. Hätte sie
Pitt nicht geliebt, hätte sie sich ohne weiteres vorstellen können, etwas für Narraway zu empfinden.
Was für törichte Vorstellungen das waren!
»Du hast dich Kate O’Neils für deine Zwecke bedient, nicht wahr?«, fragte sie.
»Ja.« Seine Stimme war kaum lauter als das leise Rascheln des Nachtwinds im Laub, so dass sie das Wort kaum hören konnte. Sie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass er sich seiner Handlungsweise schämte, und trotzdem hatte er sich nicht davon abhalten lassen. Zum Glück hatte er sie jetzt wenigstens nicht belogen.
Aber war dieser lange zurückliegende Fall tatsächlich der Grund für den konstruierten Vorwurf, den man ihm jetzt machte, er habe Geld unterschlagen?
Was war ihnen bei ihren Beobachtungen entgangen?
Was tat Pitt in Frankreich?
Hatte es seine Ordnung, dass sie und Narraway jetzt in Irland waren? Oder hatte jemand, der die Verletzlichkeit des Mannes nur allzu gut kannte, diesen stets so brillant intrigierenden Ränkeschmied überlistet – ging es in Wahrheit um etwas gänzlich anderes?
Sie wandte sich wortlos um und ging die wenigen Schritte zurück in Mrs Hogans Salon. Es gab nichts mehr zu sagen, jedenfalls nicht dort im sanften Nachtwind, der die Düfte des Gartens mit sich trug.
KAPITEL 6
Pitt machte sich Sorgen. Er stand im Sonnenschein an der Brüstung der Stadtmauer hoch über Saint Malo und sah von dort auf das blaue Wasser des Ärmelkanals hinaus. Das auf den Wellen tanzende Licht blendete so sehr, dass er die Augen zusammenkneifen musste. In der Bucht fiel das Segel eines Bootes schlaff, weil der Mann an der Pinne ein Wendemanöver durchführte.
Die alte und schöne Stadt Saint Malo hätte er bei anderer Gelegenheit sicherlich interessant gefunden. Wäre er mit seiner Familie hier gewesen, um Ferien zu machen, wäre er begeistert durch die mittelalterlichen Straßen und Gassen gestreift und hätte sich bemüht, mehr über die dramatische Geschichte des Ortes zu erfahren.
Aber so ließ ihn der Gedanke nicht los, dass er und Gower nur ihre Zeit vergeudeten. Sie beobachteten Frobishers Haus jetzt seit nahezu einer Woche, ohne etwas zu sehen, was ihnen den geringsten Hinweis darauf geliefert hätte, um welchen Geheimnisses willen Wrexham den zu Informationen an den Sicherheitsdienst bereiten West umgebracht haben könnte. Besucher kamen und gingen, Männer und Frauen. Weder Pieter Linsky noch Jacob
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